EWR 10 (2011), Nr. 2 (März/April)

Ralf Koerrenz (Hrsg.)
Joachim Heinrich Campe: Seelenlehre für Kinder
(Pädagogische Reform in Quellen; Bd. 7)
Jena: Verlag IKS Garamond 2010
(130 S.; ISBN 978-3-9382-0386-6; 14,90 EUR)
Joachim Heinrich Campe: Seelenlehre für Kinder Koerrenz legt einen kommentierten Abdruck der 1831 erschienenen Auflage von Joachim Heinrich Campes „Seelenlehre für Kinder“ vor, ergänzt durch eine biographische Skizze Campes und einen einführenden Beitrag.

Campes Seelenlehre sollte dem Erzieher als Unterstützung bei der Unterweisung kleiner Kinder dienen. Campe legt so knapp und anschaulich wie möglich die Grundlagen der Seelenlehre dar, auf deren Basis dann Religionsunterricht und Sittenlehre erfolgen können. Er sieht die Notwendigkeit einer frühen Unterweisung durch gesellschaftliche Zwänge diktiert, auch wenn er – wie er auch in anderen Texten deutlich zum Ausdruck bringt – eine (zu) frühe Ausbildung der Kinder weiterhin ablehnt. Als Pragmatiker ist er sich aber bewusst, dass die meisten Hauslehrer keinerlei Chance haben, ihre Zöglinge in einem an Rousseaus Theorie ausgerichteten langsamen Erziehungskonzept zu bilden (vgl. Campe, V).

Campes kleine, aber feine Schrift besticht durch einen leichten, (mindestens Kinder) fesselnden Schreibstil und führt so an das anthropologische Grundverständnis der Aufklärungspädagogen heran. In 14 fiktiven Gesprächen nähern sich die Protagonisten auf kindgemäße Weise den Begriffen Seele, Vernunft und Gott. Aufbau und Struktur der Gespräche sind dabei identisch mit jenen aus Campes Bestseller „Robinson der Jüngere“ (1779/1780). Man kann davon ausgehen, dass auch hier die Kinder die Abbilder der Hausgemeinschaft der Campe‘schen Erziehungsanstalt am Hammerdeich darstellen: Dietrich (Leisching), Johannes (Böhl), Nikolas (Schuback), Gottlieb (Böhl), Ferdinand und Matthias, wobei Lotte beim vorliegenden Thema separat von ihrer Mutter unterrichtet wird (vgl. Campe: Versuch einer leichten Entwicklung der ersten Religionsbegriffe, in sechs Gesprächen zwischen einer Mutter und ihrer Tochter, 1778).

Campe zeigt so am Beispiel, wie die Basis für eine aufgeklärte Religionserziehung gelegt werden kann. Zur Ergänzung und Vertiefung verweist er auf seine eigenen Erziehungsschriften: kleine Religionsgespräche (Ueber den ersten Unterricht in der Religion, 1778) und Lesemethode (Neue Methode, Kinder auf eine leichte und angenehme Weise Lesen zu lehren, nebst einem dazu gehörigen Buchstaben- und Silbenspiele in sechs und zwanzig Charten, und einer Vorrede, welcher jeder lesen muss, der dieses Büchlein gebrauchen will, 1778).

Die Gespräche werden zu den Themen
• Sinnliche Wahrnehmung der Seele
• Unklare, dunkle, deutliche und allgemeine Vorstellungen und Begriffe
• Vernunft- und Urteilskraft der Seele
• Witz und Scharfsinn der Seele
• Einbildungskraft und Empfindungen
• Phantasie
• Naturtriebe (Instinkte): Sinnlichkeit, Selbsterhaltung, Neugierde
• Liebe, Dankbarkeit, Mitgefühl
• Nachahmung; Affekte (Leidenschaften): Freude, Traurigkeit
• Hoffnung, Furcht,
• Liebe, Sehnsucht, Mitleid, Bewunderung
• Seelenkrankheiten: Hass, Neid, Zorn
• Geiz; Leidenschaften: Reue, Scham
• Tod und Unsterblichkeit der Seele

geführt, wobei der Begriff Gott erst im letzten Gespräch und scheinbar wie nebenbei benutzt wird.

Campe wählt diese Form der Erzählung, da so u.a. die Denkkraft des Kindes auf verschiedene Art gebildet werden könne. Es muss nicht stur gelernt, sondern kann phantasievoll erlebt, nachempfunden und aktiv besprochen werden. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie der Unterricht in dieser Art weitergehen kann und soll. Gleichzeitig vermittelt der Text anschaulich, wie die neuen Unterrichtsmethoden der Aufklärungspädagogen wirken. Denjenigen, der den theoretischen Hintergründen auf der Spur ist, führen sie zu Leibniz und den Schulphilosophen.

Campes Seelenlehre liegt in verschiedenen voneinander abweichenden Auflagen vor. Koerrenz hat sich für eine späte Auflage, ursprünglich abgedruckt in der posthum erschienenen Gesamtausgabe sämtlicher Jugendschriften Campes, entschieden. Diese Ausgabe enthält auch die von Campe eingefügten Hinweise und Modifikationen im Hinblick auf Kants damals neue Seelenlehre. Interessant ist im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Auflagen, dass sich die Vorworte der Ausgaben – obwohl gleichbetitelt – unterscheiden. So werden die in der Vorrede zur ersten Auflage, abgedruckt in der 1793 erschienen dritten Auflage verwendeten Begriffe „psychologisch“ und „moralisch“ in der vorliegenden Ausgabe durch die „Seelenlehre“ betreffende und „sittliche“ ersetzt (IX, XIV). Offen bleibt auch die Frage, warum in der Ausgabe von 1793 die erste Vorrede mit 1779 und in der abgedruckten Fassung mit 1770 datiert ist.

Koerrenz beleuchtet einen anderen Aspekt der Schrift: die „Elementargrammatik und Moral“ (XXI). Er unterteilt seinen Einführungsbeitrag in drei Abschnitte, die gleichzeitig die Motive Campes darstellen: Erstens das Spannungsfeld zwischen Natur und Brauchbarkeit als anthropologische Voraussetzung für Erziehung, zweitens die Entwicklung einer Religionserziehung und drittens Überlegungen zur Didaktik (nicht nur) eines solchen Lehrinhalts.

Die Interpretation des Textes setzt bei den Ansichten Campes, geäußert in Briefen an Chodowiecki und im Vorwort zur ersten Auflage, an und ermöglicht so einen interessanten und vor allem werkorientierten Blick auf die Thematik. Das Bedürfnis Campes, seine Religionserziehung kindgemäß, aber gleichzeitig gesellschaftlich angemessen zu gestalten, wird so leicht nachvollziehbar und als Motiv im Text unverkennbar sichtbar; ein gutes Beispiel für Campes Pragmatismus, der sich in allen seinen (pädagogischen) Schriften zeigt. Die so entstehende „Elementargrammatik für Grundfragen des Mensch-Seins“ (Koerrenz, XXIX), wird nach den Maßstäben gestaltet, die Campe später in seinen Texten zur Schulenzyklopädie wieder aufgreift: exemplarisch, stufenweise, altersgemäß und – wo möglich – mit angenehmer Unterhaltung verbunden.

Der Unterricht muss so gestaltet werden, dass er die Harmonie der kindlichen Kräfte – ebenfalls ein typisches Motiv in Campes pädagogischen Schriften – mit der Notwendigkeit des Lernens in Einklang bringt. Geschehen soll dies durch Dialoge und die Art der Präsentation. Da Campe nicht nur Rahmenbedingungen vorgibt, sondern seine Seelenlehre direkt in Dialogform liefert, entsteht so, quasi nebenbei, ein Leitfaden zur Religionserziehung. Die so umgesetzten didaktischen Vorstellungen werden dem zeitgenössischen Fachpublikum kommentiert zur Verfügung gestellt, um den aufklärungspädagogischen Diskurs anzuregen.

Die von Koerrenz genutzte Paarung Rousseau – Campe als Spiegel der Unvereinbarkeit aufklärerischer Ansätze ist nicht neu und verstärkt primär die (Vor-) Urteile gegenüber beiden Autoren. Die Alternative einer diskursiven Entwicklung eines Leitgedankens unter unterschiedlichen Bedingungen wird nur an einzelnen Beispielen deutlich. Nach Koerrenz lässt sich aus der von Campe entwickelten Religionserziehung der Beginn der Selbstreflexion des einzelnen Menschen und damit einhergehend die „religiöse Selbstformierung“ (Koerrenz, XXX) ableiten. Eine These, die ohne Kontext in die Irre führt, für den Leser vom Fach aber zu spannenden Kontroversen führen kann.

Die bio-bibliographische Skizze erfüllt ihren eigenen Anspruch, Campes Biographie grob nachzuzeichnen und einen Überblick über seine wichtigsten Schriften zu geben. Allerdings bleibt unklar, warum die Beschreibung der schriftstellerischen Tätigkeit die Bedeutung der Seelenlehre im Kontext des Gesamtwerks Campes außer Acht lässt. Die Auswahl der angegebenen Primärliteratur mutet dabei – wenn z.B. der in 1789 erschienene Band der Allgemeinen Revision mit 1965 angegeben wird – im Kontext seltsam an. Die vermutlich durch einen Setzfehler entstandene Umdatierung des Vorworts wird unkommentiert übernommen, was bei unerfahrenen Lesern (z.B. Studierenden) zu Missverständnissen führen kann. Zwar ist „Campes Seelenlehre“ ein sehr gute Studiengrundlage, der Beitrag von Koerrenz aber ohne zusätzliche Hinweise für Studierende nicht verständlich, allerdings ist dies auch keineswegs der ausgewiesene Anspruch des Autors.

Der Abdruck der Schrift gewinnt durch die marginalisierte Paginierung des Originaltextes und die im Anhang beigefügten Kupferstiche. Insgesamt ist eine sinnvolle Ergänzung zu den von Campe bereits erschienen Nachdrucken gelungen.
Simone Austermann (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Simone Austermann: Rezension von: Koerrenz, Ralf (Hg.): Joachim Heinrich Campe: Seelenlehre für Kinder, (Pädagogische Reform in Quellen; Bd. 7). Jena: Verlag IKS Garamond 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.04.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978393820386.html