EWR 10 (2011), Nr. 1 (Januar/Februar)

Sammelrezension zu Johannes Sturm

Bernd Schröder (Hrsg.)
Johannes Sturm (1507-1589) – Pädagoge der Reformation
Zwei Schulschriften aus Anlass seines 500. Geburtstages
Lateinisch-deutsche Lese-Ausgabe übersetzt von Ernst Eckel und Hans-Christoph Schröter (Arbeiten zur Historischen Religionspädagogik, hrsg von Rainer Lachmann und Heidi Schönfeld, Band 7)
Jena: IKS-Verlag 2009
(428 S.; ISBN 978-3-9382-0388-0; 39,90 EUR)
Matthieu Arnold (Hrsg.)
Johannes Sturm (1507-1589)
Rhetor, Pädagoge und Diplomat
(Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 46)
Tübingen: Mohr Siebeck Verlag 2009
(435 S.; ISBN 978-3-1614-9917-3; 99,00 EUR)
Johannes Sturm (1507-1589) – Pädagoge der Reformation Johannes Sturm (1507-1589) Die frühprotestantische Pädagogik des 16. Jahrhunderts wird wohl im allgemeinen historischen Bewusstsein vor allem mit dem Namen Philipp Melanchthons in Verbindung gebracht. Die exzeptionelle Leistung des praeceptor Germaniae für die Entstehung eines protestantischen Bildungswesens und –denkens kann nicht ernsthaft in Frage gestellt werden. Doch dieses gewaltige Projekt hätte nicht ins Werk gesetzt werden können ohne eine Reihe von Mitstreitern, und von diesen war wohl der Straßburger Rektor Johannes Sturm einer der bedeutendsten.

Johannes Sturm, geboren 1507 in Schleiden in der Eifel, studierte von 1524 bis 1529 in Löwen und von 1529 bis 1536 in Paris. Nachdem er einige Jahre an verschiedenen Universitäten unterrichtet hatte, wechselte er nach Straßburg, wo er von 1538 bis 1581 als Rektor der Hohen Schule tätig war, aus der zwei noch heute bestehende Nachfolgeeinrichtungen hervorgingen, das Gymnase Jean Sturm und die Universität Straßburg. In den mehr als drei Jahrzehnten, die Sturm der Schule vorstand, war er sowohl schulpolitisch als auch pädagogisch-publizistisch außerordentlich erfolgreich und beeinflusste die Etablierung des protestantischen Schulwesens nachhaltig. Charakteristisch für Sturm ist seine Verwurzelung sowohl im Humanismus als auch im protestantischen Glauben, was er in der Formulierung von der „gelehrten Frömmigkeit“ (pietas literata) auf den Punkt brachte. Sein 155 Schriften umfassendes literarisches Werk enthält Editionen von Texten antiker Autoren, Kommentare, Lehrbücher und theoretische Schriften. Sein pädagogisches Credo, die methodus Sturmiana, orientiert auf die Vermittlung einer äußeren (schulorganisatorischen) und inneren (gedanklichen) Ordnung, die Voraussetzung für jeden erfolgreichen Unterricht ist und die wesentlich durch Sprache vermittelt werden soll. „Sprachliche Bildung (linguae informatio) ist der Schlüssel zur Persönlichkeitsbildung wie zur Welt“ (37).

Anlässlich von Sturms 500. Geburtstag sind zwei Bücher erschienen, die sehr gut geeignet sind, diesen im Vergleich zu Melanchthon weniger bekannten Pädagogen und Schulmann bekannter zu machen. Grundlage jeder ernsthaften Auseinandersetzung mit den theoretischen Auffassungen Sturms sind natürlich dessen Schriften. Deren Zugänglichkeit ist aber problematisch, da viele der Sturmschen Publikationen seit langem nicht mehr aufgelegt worden sind. Aus diesem Grund ist eine Übersetzung zweier programmatischer Schriften von Sturm sehr zu begrüßen, die von E. Eckel und H.-C. Schröter angefertigt und von B. Schröder im Jenaer Verlag IKS-Garamond herausgegeben wurde. Dieses Buch enthält jedoch nicht nur die lateinisch-deutsche Fassung dieser zwei Arbeiten von Sturm, sondern auch noch eine ausführliche Einleitung des Herausgebers (9-63), die hervorragend geeignet ist, an das Leben und Werk von Sturm heranzuführen, sowie einen Anhang, der u. a. tabellarische Lehrpläne des Straßburger Gymnasiums, diverse Register und eine Bibliographie zur Primär- und Sekundärliteratur enthält (371ff).

Der erste Text von Sturm handelt „Über die fachgerechte Eröffnung von Schulen für höhere Bildung“ (De literarum ludis recte aperiendis liber). Sturm verfasste ihn anlässlich der Gründung der Hohen Schule in Straßburg im Jahr 1538. Dargestellt wird in Umrissen die Struktur eines einzurichtenden neunjährigen Gymnasiums und dies geschieht sowohl in der Form von programmatischen, theoretischen Vorüberlegungen als auch in der ganz konkreten Auflistung der Unterrichtsstoffe und –methoden für alle neun Klassen, in der Beschreibung der Vorlesungen sowie in Erörterungen zu Fragen der Methodik. Dieser Text vermittelt einen Eindruck vom Schulalltag eines protestantischen Gymnasiums und es ist bemerkenswert, „dass es sich zwar um eine theoretische Programmschrift handelt, deren Realisierung jedoch seit Gründung des Gymnasiums im Herbst 1538 tatsächlich angestrebt und in vielerlei Hinsicht erreicht wurde – davon zeugen die Lehrpläne und auch die Berichte über den Schulbetrieb, die überliefert sind“ (72).

Der zweite Text Sturms hat zum Thema „Die Schule von Lauingen“ (Scholae Lauinganae) und wurde 1565 verfasst, nachdem er von Pfalzgraf Wolfgang von Zweibrücken und Neuburg um Rat bei der Strukturierung der 1561 gegründeten Lauinger Schule gebeten wurde. Gegliedert ist der Text in sechs Kapitel: Einteilung der freien Künste, Einteilung der Lehrweise, über die Klassen, über die öffentlichen Lehrer, über die täglichen Übungen und Regeln der Schule von Lauingen. Diese war im Unterschied zum Straßburger Gymnasium auf drei bis vier Klassenstufen angelegt und setzte also den Besuch einer Lateinschule voraus. Sturm stellt in dieser Schrift aus der Erfahrung der 27 Jahre Schulpraxis, die er in Straßburg sammeln konnte, prägnant dar, wie er sich effektiven Gymnasialunterricht vorstellt. Dies wird besonders in den letzten beiden Kapiteln anhand der z. T. sehr konkreten Handlungsanweisungen deutlich.

Die deutsche Übersetzung beider Schriften folgt streng dem lateinischen Original, ist aber flüssig und gut lesbar. Trotzdem würde man bei einigen Übertragungen gern einmal den Übersetzer fragen, was ihn zu dieser oder jener Vokabel greifen ließ. So z.B., wenn das eigentlich unverfängliche und klare sapientia mit wahre Bildung wiedergegeben wird, obwohl man hier eher Weisheit erwartet hätte. Die Vermutung liegt nahe, dass ein sehr auf den pädagogischen Inhalt der Schriften fixierter Blick den humanistischen Kontext gelegentlich etwas aus dem Blick verliert.

Wer derart gerüstet ist mit Wissen zum Leben von Sturm und auch die beiden Schriften studiert hat, wird sich nun nach einem tieferen Einstieg in konkrete Probleme von Leben und Werk Johann Sturms umsehen. Hierfür sei der zweite zu besprechende, von Matthieu Arnold herausgegebene Sammelband empfohlen, der die Beiträge einer internationalen Tagung dokumentiert, die vom 11. bis zum 13. Oktober 2007 an der Straßburger Universität zum Thema „Jean Sturm (1507-1589): diplomate, pédagogue, rhéteur et théologien“ stattgefunden hat. Der Band umfasst 24 Beiträge von Fachgelehrten aus Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Tschechien, Polen, den USA und der Schweiz und ist thematisch gegliedert in vier Teile, die sich beschäftigen mit seiner Verwurzelung in und seinen Beziehungen zu Straßburg und dem Elsass, seiner Stellung zur Rhetorik, seiner Pädagogik sowie seiner Tätigkeit als Diplomat. Im Folgenden sollen vor allem die Aufsätze vorgestellt werden, die sich mit Fragen der Pädagogik Sturms beschäftigen.

Loïc Chalmel eröffnet den pädagogikhistorischen Teil mit einem Aufsatz über „Jean Sturm: Renaissance et utopie pédagogique“, in dem er den allgemeinen Rahmen der Sturmschen Pädagogik aufspannt. Er stützt sich dabei besonders auf zwei Texte: De literarum ludis recte aperiendis und die Classicae epistolae, die als Lehrbuch verwendet wurden. Chalmel sieht in der Konzentration auf die klassischen Sprachen eine Stärke der Sturmschen Unterrichtsmethode, die aber bei Vernachlässigung lebender Sprachen zugleich ihre Schwäche ist.

Mit „Jean Sturm et l’enseignement des mathématiques à la Haut École de Strasbourg“ widmet sich Édouard Mehl einem speziellen Teil des Unterrichts am Sturmschen Gymnasium. Textgrundlage sind die Scholae Lauinganae sowie ein astronomischer Traktat des Straßburger Mathematiklehrers Conrad Dasypodius. Mehl verortet die an der Hohen Schule durch Sturm und Dasypodius vertretene Auffassung von Mathematik, indem er sie mit der von zeitgenössischen Autoren wie z.B. Christoph Rothmann vergleicht. Er kann zeigen, dass dieses Mathematikverständnis auf der Höhe der Zeit ist, aber kein innovatives Potential in sich birgt.

Robert Weeda untersucht mit „Une pédagogie de l’art du chant“ die Auffassungen von Sturm zur Musik, indem er einen Brief aus den Classicae epistolae an Matthias Stiffelreuter interpretiert. Es wird deutlich, dass Sturm die Rolle des Liedes und der art du chant besonders im kirchlichen Kontext sieht, wo sie als Kirchenlied ihre eigentliche Bestimmung erfährt.

In ihrem Beitrag „Martin Crusius’ Verwendung von Notizen seines Lehrers Johannes Sturm“ untersucht Anja-Silvia Göing insbesondere eine Textsorte, die Scholien. Scholien sind einen antiken Text begleitende Texte, also Kommentare bzw. kommentarähnliche Schriften. Sie zeigt die Bedeutung dieser Textsorte für den Unterricht in Sturms Gymnasium, indem sie sie analysiert und mit den Lehrplänen anderer Schulen vergleicht.

„Scholae Lauinganae. Johannes Sturm, das Gymnasium in Lauingen und die Jesuiten in Dillingen“ ist der Titel des Aufsatzes von Anton Schindling, der wohl einer der besten Kenner des Werks von Johannes Sturm ist. Schon in seiner 1977 erschienenen Monographie „Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538 bis 1621“ hat er sich intensiv mit dem Beitrag von Sturm zur Einrichtung des protestantischen Gymnasiums in Straßburg beschäftigt. In seinem umfangreichen Aufsatz stellt er zunächst die historischen Umstände dar, die zur Entstehung dieser Schrift führten. Daran anschließend analysiert er diese Schrift und stellt die weitere Geschichte der Schule nach der Rekatholisierung dar.

In den drei diesen Teil abschließenden Beiträgen werden der Einfluss und die Wirkung von Sturm im osteuropäischen Bereich untersucht, wobei sich der Krakauer Historiker und Bibliothekar Zdzisław Pietrzyk „Johannes Sturms Studenten aus der polnisch-litauischen Republik“ zuwendet. Er zeigt, dass angelockt durch den Ruhm Sturms, seit den 40er Jahren des 16. Jahrhunderts aus dem polnisch-litauischen Bereich eine große Anzahl von Studenten nach Straßburg kam, um an der Hohen Schule zu lernen. Doch auch Schulgründungen und –reformen in Polen geschahen unter Bezugnahme auf das Straßburger Vorbild und prägten so die Entwicklung des Bildungswesens in diesem Gebiet.

Martin Holý zeigt in seinem Beitrag über „Johannes Sturm, das Straßburger Gymnasium (Akademie) und die Böhmischen Länder in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts“, dass dieser Einfluss auch in Böhmen nachgewiesen werden kann. Holý zieht zum Nachweis eine beeindruckende Fülle von Texten heran, wie z.B. Korrespondenzen, Tagebücher, Schulbücher und Schulordnungen.

Schließlich findet sich noch ein Aufsatz von Martin Klöver mit dem Titel „Sturm in Riga: Einflüsse Johannes Sturms auf das altlivländische Bildungswesen“. Er kann nachweisen, dass besonders an der Domschule in Riga durch Johannes Rivius seit 1594 eine sich auf Sturms Auffassungen berufende Reform in Angriff genommen wurde, was sich besonders in der Hervorhebung von sapientia und eloquentia als Ziele der Erziehung und an der Verwendung von Sturmschen Lehrbüchern zeigt.

Beide hier besprochenen Bücher sind gut geeignet, den Beitrag von Johannes Sturm zur Herausbildung eines Bildungswesens auf protestantischer Grundlage sowohl in praktischer Hinsicht wie auch in theoretischer Hinsicht deutlicher sichtbar zu machen. Sie liefern eine ganze Reihe von speziellen Einsichten, die den Wunsch aufkommen lassen, endlich eine Gesamtdarstellung von Leben und Werk von Sturm zu lesen, die auf der Höhe der Forschung ist. Die letzte umfassende geschlossene Darstellung dieser Art stammt von Charles Schmidt (La vie et les travaux de Jean Sturm) und ist vor über 150 Jahren geschrieben worden!
Stefan Kratochwil (Jena)
Zur Zitierweise der Rezension:
Stefan Kratochwil: Rezension von: Schröder, Bernd (Hg.): Johannes Sturm (1507-1589) – Pädagoge der Reformation, Zwei Schulschriften aus Anlass seines 500. Geburtstages Lateinisch-deutsche Lese-Ausgabe übersetzt von Ernst Eckel und Hans-Christoph Schröter (Arbeiten zur Historischen Religionspädagogik, hrsg von Rainer Lachmann und Heidi Schönfeld, Band 7) . Jena: IKS-Verlag 2009. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978393820388.html