EWR 14 (2015), Nr. 4 (Juli/August)

Rudolf Leiprecht / Anja Steinbach (Hrsg.)
Schule in der Migrationsgesellschaft
2 BĂ€nde. Handbuch. Band 1 und 2
Schwalbach / Taunus: Debus PĂ€dagogik 2015
(928 S.; ISBN 978-3-9541-4025-1; 59,00 EUR)
Schule in der Migrationsgesellschaft Das zweibĂ€ndige Handbuch ist eine ĂŒberarbeitete und wesentlich erweiterte Neuausgabe des im Jahr 2005 / 2006 erschienenen Handbuches „Schule in der Einwanderungsgesellschaft“, welches eine prominente Stellung im Bereich interkultureller, migrationsgesellschaftlicher und rassismuskritischer Bildung hat. Ebenso wie die ursprĂŒngliche Ausgabe beschĂ€ftigt sich die Neuerscheinung des Handbuches mit der Frage, wie das deutsche Bildungssystem und konkret die Institution Schule auf die PhĂ€nomene (migrationsbedingter) gesellschaftlicher DiversitĂ€t und sozialer Ungleichheit angemessen und professionell reagieren können. Dabei untersucht es die historischen Entwicklungen wie aktuelle soziale VerĂ€nderungen und gesellschafts- und bildungspolitische Diskurse ĂŒber DiversitĂ€t im Bildungssystem und formuliert Empfehlungen fĂŒr eine reflexionsorientierte, kulturalisierungs- und diskriminierungskritische pĂ€dagogische Praxis.

Das Handbuch ist in zwei BÀnde aufgeteilt. Der erste Band umfasst Grundlagen des Themenbereichs, Fragen von DiversitÀt und sowie Fachdidaktiken, der zweite konzentriert sich auf die Themen Sprache, Rassismus und pÀdagogische ProfessionalitÀt.

Band 1
Die BeitrĂ€ge in Kapitel eins, „Herausforderungen und Chancen fĂŒr die Schule“, geben einen Überblick ĂŒber die Entwicklungen der Diskurse zu Migration und InterkulturalitĂ€t in der Bildung und veranschaulichen dabei insbesondere den Einfluss gesellschaftlich-politischer Diskussionen auf Bildungskontexte. Sehr informativ ist der Beitrag von Rolf Meinhardt und Winfried Schulz-Kaempf zur Geschichte der Einwanderungen nach und Auswanderungen aus Deutschland. Auswanderung wird dabei allerdings lediglich als PhĂ€nomen der Vergangenheit betrachtet, wohingegen aktuelle Auswanderungsbewegungen, die ja neben Einwanderungen nach Deutschland ebenso zu verzeichnen sind, nicht thematisiert werden. So wird Deutschland etwas einseitig als Einwanderungsland beschrieben [1]. Die aufschlussreiche Analyse der Entwicklung von Migrations- und Integrationsdiskursen mĂŒndet in der Schilderung widersprĂŒchlicher politischer Einstellungen zu bestimmten Migrations- bzw. EinwanderungsphĂ€nomenen (z. B. FlĂŒchtlinge oder FachkrĂ€ftezuwanderung), wodurch die Notwendigkeit einer reflexiven und mehrperspektivischen Auseinandersetzung mit migrationsbedingten Erscheinungen deutlich gemacht wird.

Das zweite Kapitel beschĂ€ftigt sich mit der Institution Schule und den rechtlichen Chancen der Eingewanderten. Hier geht es insbesondere um die Entstehung und Wirkung von institutionellen Diskriminierungen im Bildungssystem (siehe dazu v. a. den umfassenden Überblick von Mechthild Gomolla). Zudem werden Informationen zur Lebenssituation und der rechtlichen Lage von Migrant_innen in Deutschland gegeben. Die Kenntnisse der beiden Themenbereiche sind m. E. essentiell fĂŒr Lehrer_innen, da dadurch eine Basis fĂŒr die Wahrnehmung von und Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen UngleichheitsverhĂ€ltnissen geliefert wird. Dies kann eine kritische Revision kulturalistischer Perspektiven fördern.

Das Kapitel „DiversitĂ€t in schulischen ZusammenhĂ€ngen“ sammelt BeitrĂ€ge, die das Zusammenspiel verschiedener Differenzlinien analysieren und Empfehlungen fĂŒr die reflexiv-inklusive pĂ€dagogische Praxis formulieren. So liefert bspw. der Beitrag von Heike Fleißner zur Differenzlinie Geschlecht Ausgangspunkte fĂŒr eine theoretische VerknĂŒpfung der geschlechterbewussten PĂ€dagogik und der Interkulturellen PĂ€dagogik / MigrationspĂ€dagogik. Die Differenzlinie Religion ist zentrales Thema im Beitrag von Ulrike Lingen-Ali. Die Autorin untersucht am Beispiel des Islams, wie die Kategorie „religiöse Zugehörigkeit“ als Trennlinie zwischen einem „Wir“ und „Sie“ instrumentalisiert wird. Dabei sieht sie von einer einfachen Deutung der Religion im Sinne von ReligiositĂ€t ab und analysiert die Wahrnehmung des Islam als soziopolitische Weltanschauung und kulturelle Kategorie.

Das letzte Kapitel im ersten Band („Fachdidaktiken und fachspezifisches Lehren und Lernen“) ist praxisorientiert und formuliert Impulse fĂŒr eine diversitĂ€tsorientierte Gestaltung des Unterrichts in den ausgewĂ€hlten FĂ€chern Mathematik, Musik, Sport und politische Bildung. Mit diesem Kapitel wird eine Praxisanleitung gegeben, die von universellen Lösungen und einfachen Ursache-Folge-Mustern absieht und somit dem Gesamtanspruch des Buches gerecht wird, Denk- und Reflexionsprozesse bei Leser_innen anzustoßen.

Band 2
Das erste Kapitel „Mehrsprachigkeit und Schule“ umfasst BeitrĂ€ge, die den schulischen Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit kritisch beleuchten sowie Beispiele fĂŒr einen ressourcenorientierten Umgang mit sprachlicher Vielfalt – u. a. in konkreten (Schul-)projekten – geben.

Das zweite Kapitel „Rassismus und Schule“ bietet einen relativ umfangreichen Überblick ĂŒber die Entwicklung, die Schwerpunkte sowie die Chancen und Grenzen rassismuskritischer Bildung. Der Fokus liegt dabei auf der Analyse der Entstehung und der Funktionsweise von Rassismen im deutschen (Schul-)Bildungssystem. Im Unterschied zu vielen anderen einschlĂ€gigen Publikationen fĂŒhrt dieser Band zwei ausfĂŒhrliche BeitrĂ€ge zum Anti-Bias-Ansatz an (beide von Bettina Schmidt) – einem theoretisch wie praktisch relevantem, aber leider zu selten thematisiertem Konzept. Eine inhaltlich sehr bedeutende Stellung im Kapitel nimmt der Beitrag von Astrid Messerschmidt ein, in dem die PrĂ€missen rassismuskritischer Bildungsarbeit vor dem Hintergrund der Notwendigkeit einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den Nachwirkungen des Nationalsozialismus analysiert werden.

Im Kapitel „PĂ€dagogische ProfessionalitĂ€t in der Migrationsgesellschaft“ werden Anforderungen an PĂ€dagog_innen zu einem professionellen Umgang mit DiversitĂ€t formuliert. Dabei heben die Autor_innen die reflexive Auseinandersetzung mit Mehrfachzugehörigkeiten sowie bestehenden Macht- und UngleichheitsverhĂ€ltnissen als eine unentbehrliche Bedingung pĂ€dagogisch professionellen Handelns hervor. Wichtig ist zudem die in den BeitrĂ€gen vorgenommene Auseinandersetzung mit der Rolle und dem SelbstverstĂ€ndnis der Lehrer_innen. In dem Artikel „PĂ€dagogische ProfessionalitĂ€t in der Kulturalisierungsfalle“ von Annita Kalpaka wird das allgemeine Problem des pĂ€dagogischen Umgangs mit Migrant_innen – nĂ€mlich das „Reden ĂŒber Kultur und Schweigen ĂŒber Struktur“ (302) problematisiert. Der Artikel von Viola B. Georgi zu Selbstwirksamkeitserwartungen von LehrkrĂ€ften mit Migrationshintergrund liefert einen interessanten Einblick in den Umgang der Lehrpersonen mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit sowie ‚kultureller‘ HeterogenitĂ€t in der Klasse und macht deutlich, dass auch Lehrer_innen mit Migrationshintergrund zu einer kritischen Reflexion der eigenen Einstellungen wie auch zur Entwicklung einer kulturalisierungs- und diskriminierungskritischen Perspektive befĂ€higt werden mĂŒssen. Eine weitere Analyse der Sichtweisen von Lehrpersonen bietet der Beitrag von Anja Steinbach, in dem die Autorin insbesondere auf die Mechanismen der Konstruktion einer schulischen „Nicht-Passung“ von SchĂŒler_innen mit Migrationshintergrund eingeht und die Einstellungen der PĂ€dagog_innen zu „Kultur“ und Mehrsprachigkeit analysiert. Zudem veranschaulicht sie die Wirkung schulischer Rahmenbedingungen und öffentlicher Diskurse ĂŒber Migration auf das pĂ€dagogische Handeln der Lehrer_innen.

Im letzten Kapitel „Kooperationen mit weiteren Institutionen und Bildungspartnern“ werden die Möglichkeiten der schulischen Zusammenarbeit mit Jugendhilfe, KindertagesstĂ€tten und Eltern geschildert. Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Andreas Thimmel, der die internationale Ebene in den Blick nimmt und ausfĂŒhrlich auf die Ausbildung „reflexiver InternationalitĂ€t“ (443) im Rahmen von schulischen Begegnungs- und Austauschprojekten eingeht. Einen hohen praktischen Wert hat die vom Autor vorgenommene Zusammenstellung von Konzepten und Studien ĂŒber Interkulturelles Lernen und SchĂŒler_innenaustausch.

Durch die Auswahl thematisch ausdifferenzierter, dennoch theoretisch von einer gemeinsamen Grundlage ausgehender BeitrĂ€ge ist es den Herausgeber_innen gelungen, verschiedene Aspekte des Themas Schule in der Migrationsgesellschaft zu beleuchten, ohne dabei den „roten Faden“ – nĂ€mlich eine durchgehende Analyse von Kulturalisierungs- und Diskriminierungspraxen – aus den Augen zu verlieren. Auf plausible Weise veranschaulicht das Buch die Rolle der Institution Schule bei der Aufrechterhaltung von gesellschaftlichen Dominanz- und UngleichheitsverhĂ€ltnissen. Die KomplexitĂ€t von DiskriminierungsphĂ€nomenen wird insbesondere durch die AusfĂŒhrungen zu IntersektionalitĂ€t und DiversitĂ€t deutlich. Durch das Offenlegen von Mechanismen der Konstruktion von „Anderen“ (v. a. am Beispiel der Kulturalisierung und Othering von SchĂŒler_innen mit Migrationshintergrund) und die Beleuchtung von Wirkungen dieser Mechanismen wird den Leser_innen der Zugang zum komplexen Thema Diskriminierung erleichtert. Dennoch – und dies ist entscheidender Vorteil dieses Handbuches v. a. im Vergleich mit thematisch verwandten wissenschaftlichen Publikationen – belassen es die Autor_innen nicht bei einer bloßen Kritik der gesellschaftlichen bzw. institutionellen MissstĂ€nde, sondern geben theoretisch fundierte und wissenschaftlich begrĂŒndete Empfehlungen fĂŒr die Weiterentwicklung des Schul- und Bildungssystems sowie konkrete Hinweise auf mögliche pĂ€dagogische Handlungswege. Somit nimmt das Handbuch einen bedeutenden Stellenwert als ein Theorie-Praxis-Referenzwerk ein, welches den Interessen und BedĂŒrfnissen von unterschiedlichen Zielgruppen gerecht wird und das fĂŒr den Einsatz in vielfĂ€ltigen thematisch relevanten Forschungsfeldern, im Lehramtsstudium und anderen StudiengĂ€ngen als Grundlage von Fortbildungen wie als Orientierungshilfe im Lehrerberuf und anderen Praxisfeldern empfohlen werden kann.

[1] So belegt eine neue Studie des SachverstĂ€ndigenrats deutscher Stiftungen fĂŒr Integration und Migration (SVR), dass seit Jahren mehr deutsche Staatsangehörige auswandern als nach Deutschland einwandern. Zwischen 2009 und 2013 wurden ca. 710.000 FortzĂŒge und demgegenĂŒber nur 580.000 ZuzĂŒge registriert (Quelle: SachverstĂ€ndigenrat deutscher Stiftungen fĂŒr Integration und Migration (2015): Auswanderung aus Deutschland ĂŒberwiegend auf Zeit. URL: http://www.svr-migration.de/presse/presse-forschung/auswanderung-aus-deutschland-ueberwiegend-auf-zeit/, letzter Zugriff am 07.07.2015). Auch laut dem aktuellen Bericht der Organisation fĂŒr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) nimmt die Zahl der – vor allem hochqualifizierten – auswandernden deutschen StaatsbĂŒrger_innen stetig zu (Quelle: Creutzburg, Dietrich (2015): Deutschland wird zum Auswanderungsland. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.06.2015. URL: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/menschen-wirtschaft/neuer-oecd-bericht-deutschland-wird-zum-auswanderungsland-13624291.html, letzter Zugriff am 07.07.2015).
Alina Ivanova (Karlsruhe)
Zur Zitierweise der Rezension:
Alina Ivanova: Rezension von: Leiprecht, Rudolf / Steinbach, Anja (Hg.): Schule in der Migrationsgesellschaft, 2 BĂ€nde. Handbuch. Band 1 und 2. Schwalbach / Taunus: Debus PĂ€dagogik 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 4 (Veröffentlicht am 07.08.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978395414025.html