EWR 16 (2017), Nr. 4 (Juli/August)

Sabine Maschke / Gunild Schulz-Gade / Ludwig Stecher (Hrsg.)
Jahrbuch Ganztagsschule 2017: Junge Geflüchtete in der Ganztagsschule
Integration gestalten – Bildung fördern – Chancen eröffnen
Schwalbach / Taunus: Debus Pädagogik Verlag 2016
(256 Seiten; ISBN 978-3-95414-069-5; 26,80 EUR)
Jahrbuch Ganztagsschule 2017: Junge Geflüchtete in der Ganztagsschule Die Frage, wie Bildungseinrichtungen mit der Vielfalt der mit Flucht und Migration verbundenen Herausforderungen adäquat umgehen können, diskutiert der von Sabine Maschke und Kolleg_inn_en herausgegebene Sammelband für ganztagsschulische Angebote – und setzt damit eine innovative Rahmung: Der größte Teil der insgesamt 17 inhaltlichen Beiträge konzentriert sich auf eine grundlagen-, wissenschafts- oder praxisbezogene Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aspekten der Thematik, um (erste) Lösungsansätze aufzuzeigen. Ergänzt werden die sechs Kapitel von einem instruktiven Vorwort, einem Rezensionsteil und Angaben zu den Autor_inn_en.

Im Zentrum der folgenden Beiträge steht insbesondere das (Leit-)Thema des Jahrbuchs:
„Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler im Ganztag“ nehmen Nora von Dewitz und Henrike Terhart in den Blick. Ausgehend von einer Identifikation der Bedarfe von Heranwachsenden mit keinen bzw. wenig Deutschkenntnissen erörtern die Autorinnen, inwiefern diese Organisationsform konzeptionelle Möglichkeiten bietet, die für alle Schülerinnen und Schüler förderlich sein können – wenn sie genutzt und entsprechend ausgestaltet werden. Dazu zählen die Individualisierung und Flexibilisierung des Lernens, ein adaptiver Umgang mit (Lern-)Zeit sowie die angeleitete Arbeit mit und in multiprofessionellen Teams.

Leonie Herwartz-Emden und Wiebke Waburg verlagern den Schwerpunkt auf „Elternarbeit mit Migrant/-innen und Flüchtlingen“. Mit interkultureller Kommunikation als Bedingung und Element qualifizierter schulischer Elternarbeit wird die Bereitschaft zum Austausch zentral: So lassen sich Sprachbarrieren mit strukturellen Anpassungen an die Herkunftssprachen (durch die Übersetzung von Elternbriefen o.Ä.) überwinden. Als sinnvoll gilt auch der Einsatz von Elternlots_inn_en bzw. Kulturvermittler_inne_n. Gerade ganztagsschulische Angebote können mit ihren Strukturen und Konzepten zu einer Entlastung der Eltern mit Flucht-/Migrationserfahrung beitragen, z.B. durch Hausaufgabenbetreuung.

Einen anderen Blickwinkel auf Kommunikation nimmt Josef Leisen ein, der sich mit „Sprachbildung“ befasst und zeigt, dass auch und gerade der außerunterrichtliche Raum mit seinen vielfältigen Kommunikationssituationen, den ganztägig arbeitende Schulen eröffnen, günstige Bedingungen bereitstellt: Spezifische Chancen liegen in der Förderung der Handlungssprache in Arbeitsgemeinschaften im Zuge progressiven Sprachlernens mittels verschiedener Strategien und Methoden-Werkzeuge (Wortlisten u.Ä.) sowie in unterschiedlichen Lernformen, die z.B. Selbsttätigkeit betonen.

Schüler_innen selbst zu Wort kommen lassen Ulrich Deinet und Kolleginnen mit der Frage: „Wie erleben Kinder die Ganztagsschule?“. Interessant an den dargestellten Ergebnissen, die auf einer Studie an sechs Düsseldorfer Schulstandorten beruhen, ist der Stellenwert, der den Peers bzw. Mitschüler_inne_n für die Ganztagesschule als einem „Lebensort“ (89) zukommt. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Option, Heranwachsenden eine entwicklungsförderliche Umgebung zu bieten, die ihren Handlungsraum bspw. durch Partizipationsmöglichkeiten erweitert, (noch) nicht ausreichend genutzt wird.

Den Perspektivwechsel von Schüler_inne_n hin zu den Personen, die neben Lehrkräften im Ganztagsbetrieb lehrend aktiv sind und sich durch eine erstaunliche „Professionsvielfalt“ auszeichnen, vollziehen Stephan Kielblock und Johanna M. Gaiser ebenfalls unter Rückgriff auf ein größeres empirisches Projekt. Das für ganztagsschulische Einrichtungen aufgezeigte breite Berufs-, Ausbildungs- und Qualifikationsspektrum unterstreicht ihre Bedeutung als „multiprofessionelle Organisation[en]“ (121) mit einem vielfältigen Potential für inklusive, integrative, ganzheitlich gelingende und effektive Lehre.

Mit Egon Tegges Fokussierung der „baulichen Gestaltung der Ganztagsschule“ folgt ein weiterer Richtungswechsel. Der Autor konzentriert sich auf Effekte architektonischer Konzepte in Verbindung mit ganztagsbezogenen Schulentwicklungsprozessen – angefangen bei Potenzialen von Clusterkonzepten über Teamarbeitsplätze für Lehrkräfte bis hin zu einem innovativen Umgang mit Brandschutzvorschriften. Um mit bzw. in pädagogischer Architektur zukunftsweisendes Lernen zu realisieren, bedarf es v.a. der Einsicht, wie effektiv Investitionen in den Schulbau sind.

Für an der (Ganztags-)Schulpraxis und -pädagogik interessierte Leser/innen sind folgende Beiträge sicherlich aufschlussreich:
Der Frage, wie traumatisierten Kindern und Jugendlichen eine Teilnahme an schulischen Angeboten ermöglicht werden kann, die ihren Bedürfnissen gerecht wird, gehen Verena Kaiser und Stefanie Peschel nach. Am Beispiel des Projekts „SchulCHEN“ im Erich Kästner Kinderdorf veranschaulichen die beiden Mitarbeiterinnen an einem konkreten Fall die besondere Leistungsfähigkeit dieser heiminternen Beschulungsmöglichkeit auch in Bezug auf eine erfolgreiche (Wieder-)Eingliederung in die Regelschule.

Christine Küch vermittelt einen Einblick in das „Lernen an der SchlaU-Schule in München“. Im Jahr 2000 gegründet, richtet sich die ganzheitlich arbeitende Schule als bundesweit einzige Einrichtung ausschließlich an junge Flüchtlinge und begleitet sie von ihrer Ankunft bis zum Einstieg in den Arbeitsmarkt. Das durchlässige System umfasst vier Stufen, flankiert von einer Vorbereitungsklasse für den mittleren Schulabschluss und dem berufsorientierten „Programm ‚SchlaUzubi‘“ (143) für ehemalige Schüler_innen.

„Gemeinsames Leben und Lernen in einer ‚Schule für alle‘“ präsentiert Walter Heilmann mit der „Rosenmaarschule in Köln“. Dabei zeigt der einstige Schulleiter, wie Kinder mit Förderbedarf durch das ganztagschulische Angebot der städtischen Grund-, Jenaplan- und Inklusionsschule mit ihren multiprofessionellen Teams gleichberechtigt am Schulleben teilhaben können. Zu den förderlichen Merkmalen gehören neben rhythmisiertem Lernen, Bewegen oder Spielen u.a. ein spezifisches Raumprogramm und die enge Zusammenarbeit mit Eltern.

Als ehemalige Schulleiterin der Hamburger Grundschule Forsmannstraße fokussiert Ruth Jacobi das „begabungsentfaltende und forschende Lernen“ auf dem Weg zur „Schmetterlingsschule“ (172), der auf der Auseinandersetzung mit theoretischen Ansätzen, der Ausarbeitung eines individuellen Konzepts und der Entwicklung entsprechender Formate für (außer-)unterrichtliche Angebote sowie der Organisation des Forschens zur Entfaltung der Selbstkompetenzen fußt. Dem inklusiven Gedanken folgend wird an den Stärken aller angesetzt, was sich ganz offensichtlich auch auf deren Leistungen positiv auswirkt.

Wie Realschüler_innen „Verantwortung [durch Engagement] lernen“, arbeitet Michael Schmitt an der Initiative „Füreinander Da-Sein“ heraus, die auf eine Sensibilisierung der Heranwachsenden für die Themen „Alter/n“ und „Pflege“ (191) sowie die Attraktivitätssteigerung pflegender Berufe zielt. Basis des Projekts sind der Bereich Schule mit speziellen Unterrichtseinheiten und der außerschulische Bereich, gekennzeichnet durch das soziale Engagement. Die konzeptionelle Verzahnung von fachlichen Inhalten und praktischen Angeboten kann für andere ganztägig arbeitende Schule spannende Impulse liefern.

Dass „Lernen […] über Beziehung [funktioniert]“ belegt Christian Hausner exemplarisch mit dem „Tutorsystem an der Evangelischen Schule Berlin Zentrum“. Wesentliches Moment ist eine entsprechende Beziehungskultur: An der Gemeinschaftsschule sind die Lehrkräfte nicht nur Lehrer_innen, sondern zugleich Mentor_inn_en, Tutor_inn_en und Lernbegleiter_innen.

Eher übergreifend diskutiert werden ganztagschulische Angebote in den folgenden Beiträgen, die sich vorrangig konzeptionellen, strukturellen und qualitativen Aspekten zuwenden:
Julia Kaufhold und Kolleg_inn_en konzentrieren sich auf ein Bundesland und stellen die „[b]ayerische Ganztagsschulentwicklung im Überblick“ mit Fokus auf die „Ausbaustrategie und Qualitätssicherung“ dar. Jürgen Oelkers bezieht sich auf den systematischen Bundeländervergleich in dem „neue[n] Gutachten“ von Klaus Klemm und Dirk Zorn zur Ausstattung gebundener Ganztagsschulen. Klaus Klemm betrachtet „im Spannungsfeld von Nachfrage, Finanzierung und Qualität“ insbesondere das nach wie vor zu geringe Angebot an und die ‚Leistungsfähigkeit‘ von Ganztagsschulen. Und Albert Berger nimmt mit der Frage nach „[i]ndividuelle[r] Förderung an amerikanischen Schulen“ eine internationale Perspektive ein und spitzt sie auf die „Lineweaver Elementary School“ zu.

Nicht unerwähnt bleiben soll der Artikel von Joachim Bauer, der „die Bedeutung der Beziehung für schulisches Lehren und Lernen“ in den Mittelpunkt rückt und dabei „eine neurobiologisch fundierte Perspektive“ verfolgt, die interessante Anstöße für die Gestaltung von Interaktionen im Schulkontext vermittelt.

Insgesamt betrachtet liefert der Band durch seinen multiperspektivischen Zugriff vielfältige Impulse zur Beantwortung der Frage, wie insbesondere Heranwachsende mit Flucht- bzw. Migrationserfahrung, aber auch Kinder und Jugendliche mit einem spezifischen Bedarf in der Schule unterstützt werden können. Ganztagsschulen wirken zwar nicht per se fördernd, verfügen jedoch über ein vielschichtiges Potenzial. Vor allem die Praxisberichte zeigen, wie die Förderung des Lernens und der Entwicklung u.a. durch ganztagsschulische Formate gelingt. Insofern können die vorgestellten Konzepte als Good-Practice-Beispiele mit Modellcharakter gelten. Leser_innen, die sich über den Ganztagsbetrieb hinaus für Schule interessieren, finden in dem Jahrbuch ebenfalls viele Anregungen.
Dr. Verena Schurt (Augsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dr. Verena Schurt: Rezension von: Maschke, Sabine / Schulz-Gade, Gunild / Stecher, Ludwig (Hg.): Jahrbuch Ganztagsschule 2017: Junge Geflüchtete in der Ganztagsschule, Integration gestalten – Bildung fördern – Chancen eröffnen. Schwalbach / Taunus: Debus Pädagogik Verlag 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978395414069.html