EWR 16 (2017), Nr. 6 (November/Dezember)

Bernd Heyl / Sebastian Voigt / Edgar Weick (Hrsg.)
Ernest Jouhy
Zur AktualitÀt eines leidenschaftlichen PÀdagogen
Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 2017
(263 Seiten; ISBN 978-3-95558-201-2; 24,90 EUR)
Ernest Jouhy Der seit Oktober 2017 vorliegende und von Bernd Heyl, Sebastian Voigt sowie Edgar Weick herausgegebene Band mit dem Titel „Ernest Jouhy – Zur AktualitĂ€t eines leidenschaftlichen PĂ€dagogen“ versteht sich selbst als Beitrag zur Auseinandersetzung mit Jouhys Werk, Leben und seiner Bedeutung fĂŒr die gegenwĂ€rtige pĂ€dagogische Diskussion. Der 263 Seiten umfassende Sammelband setzt sich aus BeitrĂ€gen zu Leben und Werk sowie fĂŒr den Sammelband ausgewĂ€hlten Texten von Jouhy zusammen. BeitrĂ€ge zu Leben und Werk beanspruchen einen grĂ¶ĂŸeren Teil der Veröffentlichung. Einen weiteren Schwerpunkt legen die Herausgeber auf die literarischen Texte Jouhys, die bisher kaum Beachtung gefunden haben.

All diese BeitrÀge werden ergÀnzt um anschauliches Material, wie persönliche Fotos aus dem Familienbesitz der Witwe Ernest Jouhys, aber auch Dokumente, wie die im Zusammenhang mit Jouhy oft erwÀhnte urkundliche BestÀtigung der NamensÀnderung von Jablonski zu Jouhy.

Neben den sich als Beitrag zur wissenschaftlichen Kommunikation verstehenden Texten der Herausgeber finden sich auch persönliche Erinnerungen an den Freund Ernest Jouhy sowie Erinnerungen an Ernest Jouhy als Lehrer. Abgerundet wird der divers bestĂŒckte Band mit relevanten Daten zur Biografie Jouhys und einer Auswahlbibliografie zu den Themen des Bandes – und damit den von den Herausgebern in den Texten Jouhys ausgemachten Themenfeldern.

Diese Besprechung des Bandes benötigt selbst zunĂ€chst eine Kontextualisierung. Michael Winkler schreibt in Bezug auf die LektĂŒrepraxis in der Erziehungswissenschaft, dass die „Klassiker“ heute immer weniger prĂ€sent seien; dabei lĂ€sst er offen, welche Texte als „klassisch“ markiert werden sollten. Sein PlĂ€doyer: Texte, die auf besondere Art ErziehungsverhĂ€ltnisse thematisieren, können als klassisch fĂŒr die Erziehungswissenschaft verstanden werden. Sie sind dann Anregungen dazu, wie abseits der pĂ€dagogischen NormalitĂ€t gedacht werden kann. Ernest Jouhy kann nach Winkler zu diesen Klassikern gerechnet werden. Bereits 2013 hielt Benjamin Ortmeyer eine informative Vorlesung ĂŒber das Leben und Werk von Ernest Jouhy. Diese basierte wiederum auf seiner Antrittsvorlesung von 2008. In Form der Publikation „100 Jahre Ernest Jouhy. Dialektische Vernunft als zweifelnde Ermutigung. Zum Werk von Ernest Jouhy“ erschienen die Ideen 2013 im Verlag Protagoras Academicus. Sebastian Voigt rezensierte dieses Werk 2014 in der Zeitschrift fĂŒr PĂ€dagogik. Seine Hauptkritikpunkte waren, dass Ortmeyer in der biografischen Exposition unkritisch mit einem Egodokument Jouhys umgehe, die Quellenkritik zu kurz komme. Auch weist er darauf hin, dass die Entwicklung des von Jouhy etablierten Forschungsschwerpunkts PĂ€dagogik Dritte Welt bei Ortmeyer nicht weiter ausgefĂŒhrt wird. Nichtsdestotrotz betrachtet er den Text Ortmeyers als wichtiges Signal dafĂŒr, dass die Auseinandersetzung mit Jouhy in der Erziehungswissenschaft weitergefĂŒhrt werden kann.

Vor dem Hintergrund der von Voigt geĂ€ußerten Kritik und dem damit verbundenen Hinweis auf zu schließende ForschungslĂŒcken lĂ€sst sich der vorliegende Band in die wissenschaftliche Diskussion einordnen – wobei ich den Schwerpunkt der Betrachtung auf die BeitrĂ€ge der Herausgeber Heyl, Voigt und Weick legen möchte. Im Kontext der bisherigen wissenschaftlichen Diskussion der Werke und Person Jouhys ist besonders der Artikel von Sebastian Voigt hervorzuheben. Unter dem Titel „Widerspruch und Widerstand. Zum Lebensweg und zur politischen Entwicklung Ernest Jouhys“ rekonstruiert Voigt die persönliche Geschichte Ernest Jouhys. Interessant ist hierbei besonders die ErwĂ€hnung des gemeinsam mit Vica Shentoub verfassten Textes „L’evolution de la mentalitĂ© de l’enfant pendant la guerre“, der sich damit auseinandersetzt, wie eine psychologische Betreuung fĂŒr kriegsgeschĂ€digte Kinder aussehen kann – dieser Text und auch das Thema selbst wurden bis jetzt kaum berĂŒcksichtigt. Mit der hier vorgelegten Auseinandersetzung mit Jouhys Lebensweg bietet Voigt eine Narration, die als Rahmung fĂŒr weitere Arbeiten genutzt werden kann – ein Text, der als erste AnnĂ€herung an die Person sicherlich in jeder folgenden Auseinandersetzung mit Jouhy seinen berechtigten Platz hat. Zugleich hat aber auch dieser Text seine Untiefen. Fraglich bleibt fĂŒr mich, ob es vor dem Hintergrund der wechselhaften Geschichte der Odenwaldschule und ihrer Situierung in der Tradition der Landerziehungsheime ausreichend ist, auf die „ProvinzialitĂ€t“ (47) der Odenwaldschule und ihre Sonderstellung hinzuweisen. Die von Voigt erwĂ€hnte ProvinzialitĂ€t ist nicht etwa ein zufĂ€lliges Merkmal der Odenwaldschule, sondern elementarer Bestandteil des Konzepts der Landerziehungsheime. Eine allgemeine Auseinandersetzung mit diesem relevanten pĂ€dagogischen Bezugspunkt – schließlich war Jouhy Lehrer in einem Landerziehungsheim – wĂ€re fĂŒr die weniger informierte Leserin hilfreich gewesen.

Der folgende Artikel von Edgar Weick trĂ€gt den Titel „Das »vernĂŒnftige Vertrauen« in der emanzipatorischen PĂ€dagogik“ und setzt sich vor dem Hintergrund einem der Kritischen Erziehungswissenschaft verpflichteten Bildungsbegriff mit Ernest Jouhys Denken auseinander. Allgemeiner geht es darum, die Frage zu beantworten, ob der Gedanke der Emanzipation in der PĂ€dagogik ĂŒberhaupt noch eine Chance hat. Unter RĂŒckgriff auf Überlegungen von Heydorn, Koneffke und anderen erarbeitet Weick die Konturen der emanzipatorischen PĂ€dagogik Jouhys und ermöglicht so einen systematischen Zugang zu einem zentralen Aspekt des Werkes. Problematisch erscheinen mir jedoch Aussagen wie, dass ein der AufklĂ€rung verpflichtetes und humanistisch angeleitetes VerstĂ€ndnis von Vernunft nicht „fĂŒr Allmachtsphantasien“ (84) missbraucht werden könne. SpĂ€testens die postkoloniale Theorie hat die vermeintliche UniversalitĂ€t und Menschlichkeit des humanistischen Denkens stark kritisiert – solche kritischen EinwĂ€nde finden in Weicks Text keine Beachtung, obwohl gerade heute Jouhys Diskussion von RationalitĂ€t einen genaueren Blick wert wĂ€re.

Bernd Heyls erster Beitrag mit dem Titel „Exemplarisches Lernen und Verstehen. Ernest Jouhy und das Foyer International d’Ètudes Françaises (F.I.E.F.)“ erweitert den Assoziationsraum um Jouhys Arbeit in ebendieser Institution. Die von Heyl beschriebenen Arbeiten Jouhys zur deutsch-französischen VerstĂ€ndigung wurden bis jetzt nicht eingehender thematisiert, fĂŒgen sich jedoch in die Diskussion um diese transnationale Zusammenarbeit gut ein. Der ebenfalls von Heyl verfasste Beitrag „Zusammenarbeit auf Augenhöhe. PĂ€dagogik: Dritte Welt“ nimmt sich eines Themas an, dass fĂŒr die spĂ€teren Überlegungen Jouhys von hoher Relevanz ist – und fĂŒr das er maßgeblich auch bekannt geworden ist. Heyl nimmt in seinem Beitrag eine zielfĂŒhrende Einordnung des Werks Jouhys in den Diskurs vor und bezieht sich auch auf die Diskussion um Konzepte des Globalen Lernens, wobei die LiteraturbezĂŒge hier nicht immer aktuell sind. Heyl konstatiert, dass „im Kontext des Globalen Lernens Fragen von Macht und Herrschaft, wenn ĂŒberhaupt, dann nur als eine Problematik unter vielen behandelt werden.“ (129-130) Mit Jouhy kann eine machtkritische Perspektive eingenommen werden, die möglicherweise noch nicht vollends etabliert ist. Nichtsdestotrotz mĂŒssen im Zusammenhang mit der Thematisierung von Globalem Lernen auch die wachstumskritischen Ideen Nico Paechs und die BezĂŒge zu Konzepten einer Bildung fĂŒr nachhaltige Entwicklung berĂŒcksichtigt werden. Heyl gelingt es, diesen Zusammenhang anschaulich darzustellen und Jouhy so abermals in der aktuellen Diskussion zu verorten.

Neben den oben bereits erwĂ€hnten Auseinandersetzungen mit dem literarischen Werk Jouhys und ErgĂ€nzungen eines Freundes und eines SchĂŒlers sind es die Texte „Zur Motivation des bildungspolitischen Engagements“ und „Demokratisierung der Schule“, die mit dem Band erneut verfĂŒgbar gemacht werden. Beide Texte wurden bereits in den gesammelten Schriften Jouhys, den „KlĂ€rungsprozessen“, veröffentlicht. Diese sind allerdings nur noch antiquarisch erhĂ€ltlich. Eingeleitet werden beide Texte durch kurze Kommentare von Edgar Weick und Bernd Heyl, die eine historische Kontextualisierung vornehmen. Zudem liefern die Kommentare bereits eine „hermeneutische Brille“ durch die die Texte betrachtet werden können. Leider wird in keinem der FĂ€lle ausfĂŒhrlich begrĂŒndet, wieso es nun genau diese Texte sind, die stellvertretend fĂŒr das Werk Ernest Jouhys ausgewĂ€hlt wurden. So könnte man auch Jouhys Überlegungen zum Kindheitsmythos, seine Überlegungen zur Kinderliteratur oder eben Jouhys Ideen zur PĂ€dagogik der „Dritten Welt“ in den Mittelpunkt rĂŒcken. Alle diese Auswahloperationen wĂ€ren berechtigt gewesen – und auch die hier abgedruckten Texte sind eine sehr gute Möglichkeit mit dem Werk von Ernest Jouhy in Kontakt zu kommen.

Fraglich bleibt fĂŒr mich durch den gesamten Band hinweg, wer genau Publikum der Publikation sein soll, welches die Gesamtheit der im Band versammelten Texte in ihrer Tiefe versteht. Gerade die AusfĂŒhrungen von Weick zur Situierung der PĂ€dagogik Jouhys im Spannungsfeld Kritischer Erziehungswissenschaft sind schwierig zu fassen, voraussetzungsreich. Gruschka, Heydorn, Horkheimer und Koneffke gehören wohl nicht zum Repertoire jeder angehenden Erziehungswissenschaftlerin. Zudem sind Vorwort und einzelne BeitrĂ€ge sehr scharf in ihrer Polemik gegen „die“ PĂ€dagogik. Dieser wird attestiert, dass sie „heute nicht mehr kritische Reflexion oder die Ausbildung von historischer und moralischer Urteilskraft“ zum Ziel habe, sondern der „ArbeitskraftbehĂ€lter, das unternehmerische Selbst und nicht mehr kritische Subjekt“ im Mittelpunkt stehen. Laut den Herausgebern mĂŒsse an einer „Substanz des PĂ€dagogischen“ festgehalten werden (10). Diese Analyse kann nicht ausnahmslos geteilt werden; problematisch erscheint mir besonders die Setzung einer „Substanz“ ohne kritische Reflexion der impliziten Voraussetzungen ebensolcher Aussagen. Kurz: Die Diskussion in der Erziehungswissenschaft ist um einiges differenzierter, als sie im Band dargestellt wird. Die aktuellen Überlegungen zu Themen wie MĂŒndigkeit, Emanzipation und Demokratie in der Erziehungswissenschaft werden kaum einbezogen. Dies zeigt sich auch an der Auswahlbibliografie des Bandes. So bleibt die eingangs geĂ€ußerte und immer wieder aufgerufene Kritik an der PĂ€dagogik, die nur das unternehmerische Selbst (in der Analyse Bröcklings ein komplexes PhĂ€nomen, welches hier eher als Strohmann aufgebaut wird) im Blick habe, trotz aller Sympathie leider unbegrĂŒndet. Spannend wĂ€re es gewesen, ebendiese Analyse mit Jouhys eigener, Ambivalenzen und Dissonanzen betonender, Perspektive gegenzulesen.
Alles in allem – und trotz dieser Kritik – kann festgehalten werden, dass es sich bei dem Band von Heyl, Voigt und Weick um einen relevanten Beitrag zur wissenschaftlichen Kommunikation handelt, der den von Voigt selbstgesetzten AnsprĂŒchen an eine Auseinandersetzung mit Jouhy genĂŒgt. Der Band ermöglicht nicht nur ein erneutes GesprĂ€ch ĂŒber Werk und Leben Jouhys sondern hat meiner Ansicht nach ebenfalls das Potenzial, eine wissenschaftliche Diskussion ĂŒber dessen Ideen zu initiieren. Gerade die ausfĂŒhrliche Bibliografie der Schriften Ernest Jouhys ermöglicht es, einen eigenstĂ€ndigen Zugang zum Werk zu finden. Die erneut abgedruckten Texte sind hierbei ein großer Gewinn, genau wie die einleitende biografische Verortung und die Einzelstudien, die jedoch voraussetzungsvoll sind.
Sebastian Engelmann (TĂŒbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sebastian Engelmann: Rezension von: Bernd, Heyl, / Sebastian, Voigt, / Edgar, Weick, (Hg.): Ernest Jouhy, Zur AktualitĂ€t eines leidenschaftlichen PĂ€dagogen. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 6 (Veröffentlicht am 07.12.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978395558201.html