EWR 16 (2017), Nr. 1 (Januar/Februar)

Martina LĂŒtke-Harmann
Symbolische Metamorphosen
Eine problemgeschichtliche Studie zur politischen Epistemologie der SozialpÀdagogik
Weilerswist: VelbrĂŒck Wissenschaft 2016
(300 S.; ISBN 978-3-95832-092-5; 34,90 EUR)
Symbolische Metamorphosen Die SozialpĂ€dagogik steht nicht in dem Ruf, reflexionsvergessen zu sein. Mitunter Ă€ußern selbst Vertreterinnen und Vertreter der akademischen Zunft, es werde zu viel und zu grundlegend analysiert und theoretisiert, wĂ€hrend man nachhaltiger angebunden an die Praxis forschen und arbeiten solle. Um es vorwegzunehmen: Die hier zu besprechende Monographie ist ein (weiteres) sehr gutes Argument, um derartigen Aufforderungen zum Reflexionsverzicht zu begegnen. Nicht weniger, sondern mehr analytische Durchdringung der zu oft impliziten Voraussetzungen sozialpĂ€dagogischer Wirklichkeitskonstruktion ist nötig, um das Projekt SozialpĂ€dagogik verstehen und eingeschliffene Bequemlichkeiten sozialpĂ€dagogischer Theorie konstruktiv aufschrecken zu können.

Betrachten wir die Studie genauer. Es handelt sich um die „geringfĂŒgig korrigierte“ (7) Dissertationsschrift der Autorin. Im Zentrum steht ein ambitioniertes, komplexes Programm: Es intendiert, einen Kernpunkt sozialpĂ€dagogischer Theorie freizulegen und einer „angemessenen“ Analyse zuzufĂŒhren. Gemeint ist die Beziehung von Sozialem und Politischem mit Blick auf deren prekĂ€re, niemals gĂ€nzlich zu integrierende Relationierung, aus der die SozialpĂ€dagogik als Wissens- und Handlungsform ihre existentielle Berechtigung abzuleiten vermag. Dies fĂŒhrt die Autorin im Endeffekt zu der Feststellung, dass die Vorgaben des Marburger Neu-Kantianers Paul Natorp ein zwar defizientes, aber in wesentlichen Punkten bis heute und gerade heute anschlussfĂ€higes Programm implizieren.
Dies festzustellen, klingt zunĂ€chst unspannend, und Martina LĂŒtke-Harmann ist nicht die erste, die zu diesem Befund gelangt. Also nur die Wiederholung einer bereits bekannten Forderung, auf Natorp zurĂŒckzugreifen, um eine vorrangig geisteswissenschaftlich zu verantwortende Verfallsgeschichte sozialpĂ€dagogischer Reflexionspotentiale zu konterkarieren? Das Gegenteil ist der Fall. Es wird – um dies vorwegzunehmen – eine in hohem Maße anregende, kreative und im besten Sinne eigensinnige Studie vorgelegt, die es verdient, die sozialpĂ€dagogische Theoriedebatte nachhaltig zu prĂ€gen.

Der Verlauf der Argumentation ist folgender: LĂŒtke-Harmann elaboriert zunĂ€chst in der Einleitung ihren zentralen Zugangspunkt ĂŒber die Vermittlung von Sozialem und Politischem, anschließend referiert sie auf philosophische BezĂŒge einer politischen Epistemologie des Sozialen, um ihre Analyse dann anhand von drei Fallstudien im Einzelnen zu exerzieren. Dabei geht es ihr darum, einen vermittelnden Weg zwischen der Anklage einer Entpolitisierung sozialwissenschaftlicher Theorie einerseits, und einem Rekurs auf eine schlichte ReprĂ€sentationslogik des Sozialen bzw. Allgemeinen der gesellschaftlichen Entwicklung andererseits zu bestimmen. Eine RĂŒckkehr des Politischen in die SozialpĂ€dagogik wird in diesem Sinne anerkannt und gefordert, aber nicht um den Preis einer „postmodernen“, radikalen Verabschiedung des Sozialen als symbolische Referenz und LebensrealitĂ€t sozialpĂ€dagogischer AdressatInnen und ForscherInnen. Es geht mithin um sozialpĂ€dagogische Selbstvergewisserung in der Aufgabe einer Relationierung von Politischem und Sozialem, was die Autorin mit zwei Meta-ErzĂ€hlungen sozialpĂ€dagogischer Theorie verbindet: einerseits einem sozialwissenschaftlichen Postulat der Re-Integration und Normalisierung, das den Spielraum des Politischen negiere, sowie andererseits eine grundlegende Politisierung bzw. (post-)demokratietheoretische Grundierung der SozialpĂ€dagogik, welche die faktischen sozialen Bedingungen individueller und kollektiver Teilhabe aus dem Blick verliere. Deren theoretische Vermittlungsarbeit ohne einen „Fixpunkt“ (17), „post-fundamentalistisch“ ohne die Interpellation einer Ursprungsmetaphysik zu leisten, ist der Einsatz bzw. der Maßstab der Studie. Sie tritt an, den politischen Spielraum sozialpĂ€dagogischer Theorie in Anerkennung ihrer geschichtlich gewordenen, gesellschaftlichen Situation zu markieren, so dass sowohl die Kontingenz politischer (Selbst-)Positionierung wie auch ihre soziale Bedingtheit zu reflektieren ist, ohne die Gebrochenheit jeder Symbolisierung eines allgemeinen Gesellschaftlichen aus dem Blick zu verlieren. Soziales und Politisches kommen demnach nicht harmonisch zueinander, aber sie können und sollen in einer „widersprĂŒchlichen geschichtlichen Vermittlung“ (32) gedacht werden. Politisches in der sozialwissenschaftlichen ReprĂ€sentation und wiederum dessen gesellschaftliche Bedingtheit sind, folgt man der Autorin, nicht ohne einander zu haben.

Das philosophische RĂŒstzeug wird im zweiten Teil der Arbeit vorgestellt. Als primĂ€re Referenzautoren fungieren Jacques RanciĂšre und Claude Lefort, deren zentraler Fokus jeweils vorgestellt, diskutiert und selbstbewusst auf Blindstellen hin analysiert wird. ErgĂ€nzend werden u.a. Colin Crouch und auch Jacques Lacan nachgefragt, um in differenzierten, kritischen Analysen die Forderung herauszuprĂ€parieren, in einer „quasi-transzendentalen“ AnnĂ€herung eine historisch-systematische Analyse in der gezeigten Richtung zu leisten. Hierzu erneut die Autorin: „Die Beziehung der SozialpĂ€dagogik zur Demokratie wĂ€re also nicht zuletzt anhand ihrer ReprĂ€sentationen zu untersuchen und danach zu differenzieren, ob sie es erlauben, den politischen Konflikt und die Spaltung des Sozialen zu denken, die Differenz, die das Politische benennt, wahrzunehmen, oder nicht“ (48). Man mag darĂŒber streiten, ob eine hochspekulative Anthropologie wie die des Psychoanalytikers Jacques Lacans tatsĂ€chlich geeignet ist, eine Spaltung von IdentitĂ€t zu begrĂŒnden und als Verweis auf einen konstitutiven Mangelzustand und die „Einsetzung von utopischen Bildern“ (74) fĂŒr das unerreichbare gesellschaftliche Ganze in die sozialpĂ€dagogische ReprĂ€sentation des Sozialen zu projizieren. Immerhin, es handelt sich um einen poststrukturalistisch beliebten Argumentationszug, der fĂŒr die Autorin das post-fundamentalistische Argument stĂŒtzt, wenn auch auf dem Fundament einer harten anthropologischen Setzung. Sie trifft sich mit der Zeitdiagnose einer entpolitisierten Tendenz der Gegenwart nach einem „Bruch“ (85) der symbolischen politischen ReprĂ€sentation in einer postmodernen Phase der prinzipiellen WĂ€hlbarkeit und Kontingenz „allgemeiner“ (sozialpĂ€dagogischer) Referenzen. Im historischen Ablauf einer vorbĂŒrgerlich-traditionalen, einer bĂŒrgerlichen und einer postmodernen bzw. postbĂŒrgerlichen Ordnung des Symbolischen (80) werde die Notwendigkeit einer neuartigen Reflexion der Vermittlung von Sozialem und Politischem fruchtbar und notwendig. Hier wie auch spĂ€ter – etwa bei der Darstellung Mollenhauers und des Einflusses der „68-er Ereignisse“ auf seine Positionen (202f) – werden entsprechende Kontextualisierungen sozialpĂ€dagogischer Theorie vorgenommen. FĂŒr eine post-fundamentalistische Position sind auch dies ĂŒberraschend strikt gesetzte argumentative GelĂ€nder, die von sich aus Wissen bereitstellen, wie die Gesellschaft beschaffen war und ist. Die vorliegende Problemgeschichte der Vermittlung des Politischen und Sozialen ist dergestalt, ganz klassisch, auch eine Sozialgeschichte, der zeitdiagnostische KontextbezĂŒge und modernisierungstheoretische Basisannahmen zu einer Aufhellung der Argumente dienen. Sie sollen – so der Anspruch der Autorin – „die gĂ€ngigen Überlegungen zum VerhĂ€ltnis von Sozialem und Politischem aus der Sackgasse [
] fĂŒhren, indem sie den Nachweis einer doppelten – imaginĂ€ren und symbolischen – Verfassung des Sozialen“ (93) erbringen.

Mit diesem Hinweis ist bereits ein Übergang zur ersten Fallstudie getan. In insgesamt drei Analysen einschlĂ€giger sozialpĂ€dagogischer Theorien bzw. jeweiliger Theoretiker dekliniert die Autorin ihren analytischen Zugang, indem sie die theoriespezifische politische Positionierung und sozialtheoretische ReprĂ€sentation rekonstruiert. Sie fokussiert hierbei mit Paul Natorp, Herman Nohl und Klaus Mollenhauer ohne Zweifel drei zentrale Autoren, deren Werke sich in besonderer Weise fĂŒr eine kontrastive Analyse eignen. Sowohl als Einzelanalysen wie auch in der VerhĂ€ltnisbestimmung sind die entsprechenden AusfĂŒhrungen ausgesprochen lehrreich und tiefgrĂŒndig. LĂŒtke-Harmann seziert schrittweise in breit informierten und ausgewiesenen ZugĂ€ngen die Relation politischer und sozialtheoretischer Referenzen jeweils fĂŒr sich und in ihrem VerhĂ€ltnis. Die genutzten PrimĂ€r- und SekundĂ€rquellen eröffnen ihr eine in dieser Form bislang nicht prĂ€sentierte Analyseoption sozialpĂ€dagogischer Theorie. Dass hierbei insbesondere die lebensphilosophische, völkische (Sozial-)PĂ€dagogik Nohls im Grunde als Reflexionsverzicht erscheint, ĂŒberrascht wenig. Er fĂ€llt merklich hinter den bei Natorp angedeuteten post-fundamentalistischen Verzicht auf Ursprungsmetaphysiken zurĂŒck. Nohl behauptet „einen positiven ,Ursprung‘ [
], der vorpolitisch und vorrational ist und von dem ausgehend die historische Bewegung ihren Sinn erfĂ€hrt“, wo der Hegelianisch vermittelte Neu-Kantianer Natorp „den Verfallserscheinungen der sich beschleunigenden Modernisierung durch die StĂ€rkung des ,Systems‘ entgegentritt“ (191). Auch wenn dies bei Natorp von einer kantianisch rationalistischen, geschichtsvergessenen Tendenz begleitet wird, steht sein erkenntniskritisches Programm einer bildungstheoretischen Analyse und Refigurierung des Sozialen und Politischen der Annahme eines verloren gegangenen, stets nur lĂŒckenhaft re-reprĂ€sentierbaren Allgemeinen wesentlich nĂ€her als Nohls – auch gegenĂŒber Dilthey zurĂŒckfallende – völkisch grundierte, entpolitisierte PĂ€dagogik der Unmittelbarkeit und Wesenhaftigkeit. Nohls sozialtheoretische Referenz der Gemeinschaft impliziert konstitutive Ausgrenzung und zielt auf Normalisierung, Natorps SozialpĂ€dagogik auf die Anerkennung von Differenz in einer letztlich auf die Menschheit bezogenen, selbstkritischen Suche nach der Realisierung von Gemeinschaft als „idealer“ Integrationsformel. Dies wird von der Autorin in breiten BezĂŒgen und wohl konzipierten argumentativen Umwegen dezidiert dargelegt.

Schwierig einzuordnen sind Klaus Mollenhauer Theoriebaustellen. Die Autorin unterscheidet hier drei Werkphasen, die sie in der Zusammenschau auf das Motiv einer in Mollenhauers Werk sich abzeichnenden „sukzessiven Erosion der genealogischen und symbolischen Ordnung“ (199f) bezieht. Angesichts der differenten Positionen des Autors mag ein solches KontinuitĂ€tsmotiv zunĂ€chst gewagt erscheinen, aber auch dies wird sehr detailliert und transparent rekonstruiert. Im Endeffekt bleibt, so LĂŒtke-Harmann, eine (sozial-) pĂ€dagogische, Habermassche Diskursethik dominant, die Konflikte zwar anerkennt, sie aber in einer kritisch-emanzipativen, paradoxerweise entpolitisierten KonsenspĂ€dagogik neutralisiert. „Diese Aporie der Diskursethik beruht darauf, dass sie den Umbruch zur Postmoderne auf eine Weise zu besĂ€nftigen sucht, welche die Spannung zwischen PartikularitĂ€t und UniversalitĂ€t, subjektiver Welterschließung und objektivem Geist durch die sprachphilosophische Annahme einer in den Strukturen der Sprache selbst angelegten Einheit harmonisieren will“ (246). Mollenhauer bleibt damit, tendenziell Ă€hnlich wie Nohl, einer treffend mit Derrida als solcher bezeichneten „Metaphysik der PrĂ€senz“ (247) verpflichtet. Die entsprechende Selbstkritik fĂŒhrt in Mollenhauers SpĂ€twerk zu erkenntnis- und reprĂ€sentationskritischen Revisionen, die prĂ€senzmetaphysische und positivistische Tendenzen korrigieren, dies auch in einer Wiederentdeckung der Geschichte. Aber, so die Autorin, das nun kulturtheoretisch gewendete Programm vergesse „die strukturelle DignitĂ€t des Gesellschaftlichen sowie die damit verbundenen Verwerfungen und Herrschaftswirkungen, deren Reflexion das FrĂŒhwerk Mollenhauers gekennzeichnet hatte“ (265). Der Neubeginn Mollenhauers bleibe damit uneingelöst.

Ein etwas knappes Fazit schließt mit dem vierten Teil die Studie ab. Es markiert in pointierter Weise sowohl das Scheitern der diskutierten Autoren wie auch den analytischen Aufruf, „die Differenz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft“ (271f) als politische Kernform der sozialpĂ€dagogischen Theorie anzuerkennen und sie auf der Basis einer quasi-transzendentalphilosophischen Perspektive aufzuschließen. Dass hierzu weitergehender Bedarf besteht, bezeugen aus der Sicht der Autorin nicht zuletzt die Positionen Nohls und Mollenhauers in ihrem „Immanentismus“ (275, mit Bezug auf Nancy), d.h. einer einerseits lebensphilosophischen, andererseits diskursethischen „Substantialisierung des ,Gesetzes‘, seine Verortung in der ,Wirklichkeit‘ der Erziehung und die Postulierung einer reinen Immanenz“ (276), welche Differenz in IdentitĂ€t unterschlĂ€gt.

Dass neuere sozialpĂ€dagogische Positionen in der Folgezeit Mollenhauers weiter in die von der Autorin postulierte Richtung gingen, ist offenkundig, kann in der Studie aber nicht mehr detailliert aufgegriffen werden. Die EinschĂ€tzung, diese neueren Selbstvergewisserungen der SozialpĂ€dagogik seien nicht in der Lage, die strukturelle geschichtliche Bewegung nachhaltig theoretisch einzuholen und einem ontologischen Bezugspunkt gerecht zu werden, „der Tradierung und Differenzierung, formal organisierte Gesellschaft und organisches Gemeinwesen vermitteln könnte [
]“ (280), erscheint pauschal. Aber die Studie ist insgesamt ein nachhaltiger und sehr ĂŒberzeugender Aufruf, an dem Projekt dieser Selbstvergewisserung weiterzuarbeiten und die Einseitigkeit einer „versozialwissenschaftlichten“, tatsĂ€chlich entpolitisierten SozialpĂ€dagogik ebenso zu kontrollieren wie eine postmoderne Verabsolutierung von Kontingenz. Die Arbeit ist nicht leicht zugĂ€nglich. Aber sie eröffnet auf hohem Abstraktionsniveau und unter Einbindung breiter philosophischer Referenzen ein Diskussionsfeld, das weiterbearbeitet werden muss. Man kann in diesem Sinne von einer herausragenden Studie sprechen, die eindrĂŒcklich demonstriert, dass das Projekt sozialpĂ€dagogischer Erkenntnis-, ReprĂ€sentations- und Selbstkritik fruchtbar ist und noch lange nicht abgeschlossen sein wird.
Bernd Dollinger (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Bernd Dollinger: Rezension von: LĂŒtke-Harmann, Martina: Symbolische Metamorphosen, Eine problemgeschichtliche Studie zur politischen Epistemologie der SozialpĂ€dagogik. Weilerswist: VelbrĂŒck Wissenschaft 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978395832092.html