EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)

Johanna Weckenmann/Jennifer Preiß/Kristina Rüger (Hrsg.)
Universität verstehen. Universität kritisieren! Universität weiterdenken?
Norderstedt: Goethe-Universität, FB04 – Dekanat 2019
(236 S.; ISBN 978-3-9820-4543-6; 8,99 EUR)
Universität verstehen. Universität kritisieren! Universität weiterdenken? Seit zwei Jahren befindet sich die Universität in Lehre, Forschung und Sozialität in einem stetigen Prozess der Veränderung und Anpassung an das Digitale und eine gewisse Form der Einsamkeit. Leere Flure, Räume, Cafeterien und Bibliotheken wurden zeitweise zum Symbolbild einer Leerstelle im studentischen Leben und wissenschaftlichen Arbeiten. Die humboldtsche Einsamkeit wurde perfektioniert und gleichzeitig fanden wissenschaftliche Kontroversen, Diskussionen nach den Seminaren und Vorlesungen, Freundschaften, politische Proteste und Aktionen neue Orte und Formen. Und dennoch: Sich die Universität als Ort der Wissenschaft, der Bildung, des öffentlichen und des individuellen Lebensraums wieder einzuverlangen und sie als Ort der hörbaren Diskussionen zu gestalten, ist dabei das zentrale Begehren, welches die Studierenden von 2020/2021 mit den Herausgeberinnen des 2019 publizierten Sammelbandes „Universität verstehen. Universität kritisieren! Universität weiterdenken?“ verbindet. Die Publikation, die eine Auswahl der Vorträge der studentisch organisierten Ringvorlesung „Universität – 360°“ der Erziehungswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main aus dem Wintersemester 2016/2017 zusammenstellt, erhält durch die Corona-Pandemie und ihre spezifischen Konsequenzen für Studium, Forschung und Lehre eine besondere Aktualität.[1]

Johanna Weckenmann, Jennifer Preiß und Kristina Rüger, damals selbst noch Studentinnen, nahmen ihre Wahrnehmung der Individualisierung der Selbst-Verortung in Studium und Universität zum Anlass, um aus dieser Verstummung der Kontroversen auszubrechen (1). Einen öffentlichen, statusübergreifenden Austausch über die Universität zu ermöglichen war der Ausgangspunkt der Organisatorinnen der Frankfurter Ringvorlesung. Unter der Chiffre des Bologna-Prozesses und der beobachtbaren Gewöhnung an seine Konsequenzen sollte ausgehend von einem historisch-systematischen Zugang der Gegenstand kontrovers diskutiert werden. Die Dreiteilung des Sachverhältnisses in Verstehen, Kritisieren und Weiterdenken der Publikation enthält dann nicht nur einen kategorialen Zugang, sondern auch eine zeitliche Komponente: die Universität in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verstehen, zu kritisieren und weiterzudenken (7f, 11ff). Dabei zieht sich der Widerspruch von der Idee der Universität und ihrer historisch konkreten Gestaltungsform im Spannungsverhältnis von Wissenschaft, Bildung, Politik und Ökonomie durch die 11 Aufsätze hindurch. Neben historisch-deskriptiven Rekonstruktionen der Idee der Universität und Darstellungen von Strategien und Steuerungsmechanismen von Studium und Lehre, finden sich in dem Sammelband auch andere Beiträge, die ein systematisches und politisches Potential für die erneute Diskussion über Universität als Ort der Wissenschaft, als Ort der Bildung und als Ort der Kritik entfalten.

Neben zwei einleitenden Vorbemerkungen und einem Nachwort der Herausgeberinnen, ist der Sammelband analog zum Titel in drei Kapitel untergliedert. Der erste thematische Komplex – Universität verstehen – mit Aufsätzen von Mitchell G. Ash, Rita Casale, Rudolf Steinberg, Tanja Brühl und Claudia Bremer, entwickelt unterschiedliche, teils diametrale Perspektiven auf den Gegenstand. So schildert Ash, dass die europäische Universität „in der modernen Geschichte seit 1800 eine multifunktionale Einrichtung gewesen“ sei (20). Die Universität sei daher nie ausschließlich eine Forschungsinstitution gewesen, sondern durch verschiedene Interessensgruppen aus Politik, Wirtschaft und Militär geprägt (21, 28ff). Folglich plädiert der Autor, statt vom Mythos Humboldts oder gar dessen Tod zu sprechen, für die Bejahung der Multifunktionalität der Universität (35f). Ash analysiert jedoch nicht die Auswirkungen solch einer Affirmation, die u.a. als Konsum von „Bildung“ und als Investition in das individuelle Humankapital analysierbar wären. Demgegenüber legt Casales Aufsatz einen Gegenentwurf vor.

Zum einen entfaltet die Autorin eine gegenhegemoniale Geschichtsschreibung der modernen Universität, indem sie die bürgerlich-liberale Tradition der Philosophie und die bürgerlich-liberale Tradition der Universität durch die völkische Idee der Universität vermittelt über Martin Heidegger konterkariert (41ff). Casales Analyse der völkischen Bestimmung der Universität als „Kampfgemeinschaft von Schülern und Lehrern im Namen des Volkes“ ist jedoch nicht nur gegenhegemonial, sondern angesichts eines global erstarkenden Rechtspopulismus und Rechtsextremismus eine notwendige aktuelle Perspektive in der Bearbeitung des Verhältnisses von Wissenschaft, Bildung und Politik. Zum anderen stellt Casale die Universität als Ort der Wissenschaft und als Ort der Bildung nach 1945 zur Analyse. Eine Perspektive, die durch die Fokussierung der ökonomischen Problemfelder der Universität im Sammelband weniger Beachtung findet.

Der zweite thematische Komplex – Universität kritisieren – verknüpft mit den Aufsätzen von Frank-Olaf Radtke, Ludwig Pongratz und Andreas Gruschka das im ersten Kapitel aufgeworfene Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft, Bildung und Politik mit Ökonomie. Radtke erörtert, dass die Steuerung der Studiennachfrage und die Finanzierung der Universitäten „die harten Bezugsprobleme [gewesen sind], unter denen Universitätsdiskussionen im 20. Jahrhundert geführt“ wurden (119f) und bis heute anhalten. Die gegenwärtigen Diskussionen um „Bildungskapitalismus“, die „unternehmerische Universität“, Wettbewerbs- und Marktlogiken in Lehre und Forschung seien nicht universitätsspezifisch, sondern im Kontext allgemeiner finanzwirtschaftlicher Entwicklungen seit den 1980er Jahren zu verstehen und zu kritisieren.

Denn seitdem preise das ökonomische Denken die Marktverherrlichung an und konstituiere sich die Etablierung des Bildungsmarktes (125, 127f, 131f). Universität werde so zur Anbieterin von Wissensvermittlung und zur Produzentin von wissenschaftlichem Output. Die ökonomische Bedingtheit der Kontroverse um Universität führt Pongratz fort, indem er den Verwertungsprozess von Universität und Studium kritisiert, an dessen Ende Autonomie stehen solle. Doch diese Autonomie sei nur eine Schein-Autonomie, ein „Steuerungselement innerhalb einer spezifischen Regierungstechnik, deren Sinn vor allem darin besteht, das Erziehungssystem für ökonomische Interessen besser zugänglich zu machen“ (146).

Das dritte und abschließende Kapitel – Universität weiterdenken – deutet mögliche Entwicklungen der Universität an. Norina Müller, als einzige studentische Vertreterin des Sammelbandes (neben den Herausgeberinnen), betont das Potential studentischen Protests, um Universität öffentlich streitend zu verändern (191, 205ff). Markus Rieger-Ladich befragt die immer wieder aufkommende Forderung, „Universität als Ort der Kritik zu begreifen“ (175), angesichts der inneruniversitären Bedingungen, die das Üben von Kritik verhindern. Während Rieger-Ladich die strukturellen Voraussetzungen von wissenschaftlichen Debatten für das „Personal des wissenschaftlichen Feldes“ (179) befragt, ergänzt Christiane Thompson seine Überlegungen, indem sie die Bestimmung der Universität als Bildungsraum und die akademische Redefreiheit in die Debatte einführt. Dabei sei der „Bildungsraum Universität“ (225) immer als geteilter Raum zu verstehen, der die „Grenzen der eigenen Erfahrungsfähigkeit“ (224) aufzeige und die Konfrontation „mit einer ganz anderen Position“ (225) ermögliche. Angesichts der Frage „wie argumentative Differenzen ausgetragen werden können“ (224) und den damit einhergehenden „Streit um die akademische Redefreiheit“ (225) sieht sich Thompson veranlasst, über Anstand und Zivilität in universitären Debatten abschließend nachzudenken.

Zum Schluss, und hier muss den Herausgeberinnen recht gegeben werden, bleibt viel Potential, um die Ringvorlesung fortzuführen, z.B. hinsichtlich der Autonomie der Wissenschaft im Kontext zeichenpolitischer Debatten oder der epistemologischen Transformation des Wissens und dessen Konsequenzen für die Universität als Ort der Wissenschaft und als Ort der Bildung. Das Spannungsverhältnis von Wissenschaft, Bildung, Politik und Ökonomie bedarf außerdem einer Aktualisierung. Viel Kritik hat in dem Sammelband die Marktverherrlichung und die kapitalistische Vereinnahmung von Bildung erhalten. Doch ein ökonomischer Gegenentwurf, der die in den Aufsätzen geübte Kritik ernst nimmt, wurde nicht zur Diskussion gestellt. Verfolgt man die wirtschaftswissenschaftlichen und politikwissenschaftlichen Debatten, scheint eine neue Ära sozialer Wirtschaftspolitik angebrochen zu sein. Es ist offen, wie sich diese Debatten entwickeln und inwiefern Universität in diesem Zusammenhang weitergedacht werden kann.

[1] Alle 14 Vorträge finden sich nach wie vor als Videomitschnitte unter https://www.uni-frankfurt.de/65642287/Vortraege.
Anna-Sophie Kruscha (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anna-Sophie Kruscha: Rezension von: Weckenmann, Johanna / Preiß, Jennifer / Rüger, Kristina (Hg.): Universität verstehen. Universität kritisieren! Universität weiterdenken?. Norderstedt: Goethe-Universität, FB04 – Dekanat 2019. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978398204543.html