Ausgehend von der These, dass die Kriegs- und Fluchterfahrungen der zwischen 1927 und 1947 geborenen so genannten Kriegskinder lange Zeit ein gesellschaftliches Tabu gewesen seien, das erst in jüngster Zeit in den Blick gerate, geht die Journalistin Ustorf der Frage nach, welche transgenerationalen Effekte diese Erfahrungen auf die Söhne und Töchter der Kriegskinder haben. Ankerpunkte sind dabei die Individual- und Familienbiographie der Verfasserin. Außerdem wird auf Interviews rekurriert, die die Autorin mit Kindern von Kriegskindern führte. Gestützt auf selektiv rezipierte wissenschaftliche Erkenntnisse aus Kriegskinderforschung, Neurowissenschaften und Psychologie wird das Material auf unterschiedliche Lebensbereiche wie beispielsweise Selbstwahrnehmung, Bildungsaspiration, Problembewältigungsstrategien und die Gestaltung von Partnerschaft bzw. Familienleben hin analysiert. Bedauerlich ist dabei, dass sämtliche Phänomene stets auf die Spätfolgen einer faschistischen Erziehung sowie die Kriegs- und Fluchterlebnisse der Elterngeneration zurückgeführt werden, ohne dass alternative Deutungsmuster wie z.B. Auswirkungen von Suchterkrankungen oder Effekte des Aufwachsens in Patch-work-Familien in Erwägung gezogen werden. Ebenso wenig wird die Funktionalität des Kriegskinderbegriffs kritisch reflektiert. Ratgeberähnliche Strukturen erreicht das Werk, wenn im vorletzten Kapitel Kriegskindern Wege der Schicksalsbewältigung – beispielsweise Hinweise auf Internetforen oder Therapieangebote – präsentiert werden. Im abschließenden Kapitel schließlich zeigt die Autorin an einer weiteren Beispielbiographie die Situation von aktuell in Deutschland lebenden – beispielsweise afghanischen – Kriegskindern auf und plädiert für eine veränderte deutsche Flüchtlingspolitik. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Stärken des Bandes – das aktuelle Thema, die geschickt montierten (auto-)biographischen Sequenzen, der flüssige Schreibstil – offenbar ein breites Publikum angesprochen haben. Anders ist es kaum zu erklären, dass inzwischen im Januar 2010 bereits eine fünfte Auflage des Werkes erschien. Für den wissenschaftlichen Diskurs um die Kriegskinder und deren Nachfahren dagegen ist der Band aufgrund der populärwissenschaftlichen Darstellungsweise leider nur von beschränktem Interesse. Ertragreich könnte allerdings eine Analyse unter wissenssoziologischer Perspektive sein.
EWR 9 (2010), Nr. 3 (Mai/Juni)
Wir Kinder der Kriegskinder
Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs
3. Auflage
3. Auflage
Freiburg im Breisgau: Herder 2009
(189 S.; ISBN 978-3-451-29814-1; 19,95 EUR)
Jeanette Bair (TĂĽbingen)
Zur Zitierweise der Annotation:
Jeanette Bair: Annotation zu: Ustorf, Anne-Ev: Wir Kinder der Kriegskinder, Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs 3. Auflage. Freiburg im Breisgau: Herder 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2010), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/annotation/978345129814.html
Jeanette Bair: Annotation zu: Ustorf, Anne-Ev: Wir Kinder der Kriegskinder, Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs 3. Auflage. Freiburg im Breisgau: Herder 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2010), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/annotation/978345129814.html