EWR 7 (2008), Nr. 6 (November/Dezember)

Axel Oberschelp
Das Hallesche Waisenhaus und seine Lehrer im 18. Jahrhundert
Lernen und Lehren im Kontext einer frĂĽhneuzeitlichen Bildungskonzeption
(Hallesche Forschungen; Bd. 19)
TĂĽbingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen / Niemeyer 2006
(400 S.; ISBN 978-484-84019-5; 64,00 EUR)
Das Hallesche Waisenhaus und seine Lehrer im 18. Jahrhundert In der deutschen Universitätsgeschichtsforschung wurde die Gründung der Universität Halle im Jahre 1694 zu Recht stets als eine Zäsur verstanden. Mit der neuen zentralen brandenburg-preußischen Universität in der Saale-Stadt wurde nicht nur eine weitere protestantische Hochschule im Alten Reich eröffnet, sondern mit Halle verband sich eine ganz neue Bildungskonzeption, die maßgeblich vom Pietisten August Hermann Francke, dem Reichstaatsrechtslehrer Christian Thomasius und dem Naturrechtler Christian Wolff formuliert wurde. Die Universität Halle entwickelte sich dank einer modernen, frühaufklärerischen Wissenschafts- und Lehrstuhlsystematik rasch zu einem bedeutenden Zentrum der akademischen Gelehrsamkeit im Reich, dessen Wissenschaftskonzeption auch an anderen Universitäten rezipiert wurde. Die anhaltend hohen Immatrikulationszahlen im gesamten 18. Jahrhundert – auch noch nach der Gründung der Konkurrenzuniversität Göttingen – sprechen eine eindeutige Sprache. Zum Erfolg Halles hat maßgeblich die pietistische Schulreform Franckes am Waisenhaus beigetragen, das zusammen mit den anderen Einrichtungen seit 1698 als Annex zur Universität gehörte. Die Franckeschen Anstalten – bestehend aus einem in sich verschränkten System von Deutschen Schulen, Lateinschule, Paedagogium, Internat und Lehrerseminar, zudem mit einer eigenen Druckerei – entwickelten sich zu einem innovativen Modell eines erfolgreichen Schulbetriebs. Bei Francke und seinen pietistischen Mitstreitern wurden nicht nur spätere Schulmänner in Brandenburg-Preußen herangebildet, sondern das Waisenhaus wurde auch von nichtpreußischen Pädagogen und Theologen zu Anschauungszwecken aufgesucht.

Seit jeher wird mit der Entstehung der Franckeschen Anstalten der Beginn der professionalisierten Lehrerausbildung im 18. Jahrhundert angesetzt, der nicht zuletzt durch die Verbindung von Pietismus und Aufklärung auch eine enorme Wirkmächtigkeit für den noch jungen brandenburg-preußischen Staat unterstellt wurde, wie die älteren Studien von Klaus Deppermann oder Carl Hinrichs eindrücklich gezeigt haben [1]. Entsprechend stark war somit stets das Interesse der historischen Forschung – und zwar interdisziplinär gleichermaßen der geschichtswissenschaftlichen, pädagogischen und theologischen Forschung – an August Hermann Francke, seinen pädagogisch-didaktischen Konzeptionen und dem Schulkomplex am halleschen Waisenhaus. Die Voraussetzungen für eine vertiefte Beschäftigung mit dem Phänomen sind also grundsätzlich günstig, so dass die bei der Frühneuzeit-Historikerin Monika Neugebauer-Wölk an der Universität Halle-Wittenberg entstandene, einem größeren DFG-Forschungsprojekt („Schüler, Lehrer und Schulalltag der Schulen in den Franckeschen Stiftungen. Vom Beginn bis zum Tod des zweiten Direktors“) entsprungene geschichtswissenschaftliche Dissertation von Axel Oberschelp, die von der einschlägig ausgewiesenen Historischen Bildungsforscherin Juliane Jacobi mitbetreut wurde, auf eine vergleichsweise gute Forschungslage zurückgreifen konnte: Die wesentlichen innovativen Elemente der pädagogisch-didaktischen Ideen Franckes – zu nennen sind insbesondere die Einführung des Anschauungsunterrichts (Realienunterricht) und der anwendungsbezogenen Fächer, das Fachklassensystem, das von einem pietistischen Impetus geprägte Lehrer- und Schülerbild, der Beginn einer institutionalisierten Lehrerausbildung – sind schon lange bekannt. Sie sind Ergebnis der Auswertung vor allem der pädagogischen Schriften August Hermann Franckes und der normativen Quellen.

Wenig bekannt war hingegen die konkrete Umsetzung der pietistischen Erziehungsideale in Halle, mithin die pädagogische Praxis oder – wie es einmal Wolfgang Neugebauer formuliert hat – die „Schulwirklichkeit“ in Halle [2]. Zudem mangelte es an einer sorgfältigen institutionellen Abgrenzung der einzelnen Schulen sowie einer echten Überprüfung der These, dass und auf welchem Wege das Schulmodell Franckes außerhalb Halles tatsächlich rezipiert wurde. Schließlich stand praktisch bei allen einschlägigen, älteren Untersuchungen stets die Frühzeit des Waisenhauses im Vordergrund, wohingegen die Zeit nach dem Tode des Gründers, als der Schulkomplex unter der Leitung von Gotthilf August Francke stand, knapp und pauschal als Niedergangsphase apostrophiert wurde.

Die Dissertation von Axel Oberschelp greift eben diese Desiderata bewusst und engagiert auf und nimmt vor allem das Lehrpersonal und den pädagogischen Alltag an den verschiedenen – von ihm stets unter einem streng komparatistischen Blickwinkel behandelten – halleschen Schultypen sowie das Problem der Diffusion des Franckeschen Reformprogramms in den Blick, wobei der Untersuchungszeitraum von der Gründung der Franckeschen Anstalten (1695) bis zum Tod Gotthilf August Franckes (1769) erfreulich weit reicht. Unter Berücksichtigung von bislang noch nicht ausgewerteten – insbesondere seriellen, nicht-normativen – Quellen aus dem jüngst neu erschlossenen Archiv der Franckeschen Stiftungen (u.a. Freitisch- und Lehrerverzeichnisse, Protokolle von Lehrerkonferenzen, pädagogische Gutachten über das Lehrpersonal) sowie durch die Anwendung von quantitativ-statistischen und prosopographisch-kollektivbiographischen Auswertungsmethoden gelingt Oberschelp eine ganz neue, nachgerade in vielen Bereichen auch stark die ältere Forschung korrigierende Sicht auf die Waisenhausschulen. In der wichtigen Studie werden die Möglichkeiten und Grenzen des halleschen Pietismus, mithin die frappierenden Diskrepanzen zwischen pietistischem Anspruch der Anstaltsleitung und der pädagogisch-didaktischen Praxis, erstmals explizit thematisiert, wobei der Schwerpunkt ganz eindeutig auf einer gründlichen Analyse des überwiegend aus Theologiestudenten der Universität Halle bestehenden Lehrpersonals – als praktische Vermittler und Multiplikatoren pietistischer Bildungsreformen – liegt.

Ausgehend von einem knappen Überblick über die einzelnen Schulen des halleschen Waisenhauses (Kap. 1.3.) und einer weitgehend den bisherigen Forschungsstand referierenden, ausführlichen Darstellung, Einordnung und Würdigung der Pädagogik des halleschen Pietismus (pädagogische Gesamtkonzeption, konstitutive Elemente des Lehrerbildes bezüglich religiöser, fachlicher und didaktischer Eignung, normativer Unterrichtsbetrieb mit Hinweisen zur Lehrmethode; Kap. 2) widmet sich Kap. 3 der „Lehrerausbildung im Halleschen Waisenhaus“. Wesentliche Grundlage dieses Abschnitts ist die prosopographisch-kollektivbiographische Auswertung der Freitischverzeichnisse. Im Fokus steht die Bedeutung der Phase der „Exspektanz“, die mit ihren durchaus beachtlichen Verpflichtungen zur begrenzten Teilnahme am Alltag im Waisenhaus von Axel Oberschelp als erstes Selektionselement der Anstaltsleitung gedeutet wird, um sich einen Eindruck von den Lehramtsbewerbern zu machen, sowie der im institutionellen Gang darauf folgenden Phase der „Präparanz“, der eigentlichen Vorbereitungskurse.

Die Trennung von Exspektanz und Präparanz ist durchaus als Ausdruck einer zunehmenden Professionalisierung der Lehrerausbildung zu sehen, auch wenn die Trennung dieser beiden Ausbildungsphasen noch nicht immer strikt durchgehalten und die Vorbereitungskurse gerade von den Lehramtskandidaten an den Deutschen Schulen und an der Lateinischen Schule oftmals nur unregelmäßig aufgesucht wurden. Immerhin deutet eine bis zu zehnmonatige Dauer der Präparanz sowie der – freilich nur ausnahmsweise die vorgesehenen zwei Jahre umfassende – Besuch des „Seminarium Praeceptorium selectum“ auf eine vergleichsweise gut organisierte und weit entwickelte Ausbildungs- und Begutachtungsphase hin. Bereits hier stellt Oberschelp fest, dass die Lehrerausbildung abhängig von den Schultypen unterschiedlich intensiv war, mithin die Ausbildungsbedingungen am Paedadogium, das auch ansonsten eine Sonderstellung innerhalb des Anstaltskomplexes eingenommen hat, weitaus attraktiver waren als an den anderen Schulen. Am Paedagogium konnten offenbar auch noch am ehesten die pietistischen Lehrerideale – die Verbindung von persönlicher Frömmigkeit und sittlichem Lebenswandel mit hohen fachlich-didaktischen Kompetenzen – verwirklicht werden, was sicherlich auch an der längeren Verweildauer der dort wirkenden Lehramtskandidaten lag.

Die Auswertung der Lehrerverzeichnisse in Kap. 4 ermöglicht – insbesondere für die Zeit des Direktorats des jüngeren Francke – erstmals einen differenzierten Blick auf die Biographien der Theologiekandidaten. So kann Axel Oberschelp etwa herausarbeiten, dass sich die Lehrerschaft über den Untersuchungszeitraum sukzessiv verjüngte, was freilich zu einer Reihe von spezifischen Problemen in der pädagogischen Praxis führte, beispielsweise die geringe Alterdifferenz zwischen den Lehrenden und Lernenden. Insgesamt fällt auch hier wieder die offenbar bessere Qualifikation und geringere personelle Fluktuation des Lehrpersonals am Paedagogium im Vergleich zu den Deutschen Schulen und der Lateinschule auf. Diesen Eindruck vermitteln auch die von Oberschelp ausgewerteten, offenbar inhaltlich sehr reichhaltigen Protokolle der anfangs unregelmäßig, später meist wöchentlich abgehaltenen Lehrerkonferenzen an allen Schulen. Interessant ist in diesem Zusammenhang das scheinbar kleine Detail, dass die von der Anstaltsleitung für Unterrichtszwecke gedruckten Verordnungen den Lehramtskandidaten nur sehr eingeschränkt zugänglich waren. Damit korrespondiert im Übrigen auch die generelle Beobachtung Oberschelps, dass es zum Teil große Diskrepanzen zwischen dem pietistischen Anspruch und der pädagogischen Wirklichkeit an den Schulen gab, auch wenn die Beurteilungen des Lehrpersonals – vor allem die der jüngeren Lehrer – etwa bezüglich ihrer fachlichen Kompetenzen, überwiegend positiv ausfielen. Dem hehren Frömmigkeitsideal der pietistischen Anstaltsleitung wurde hingegen die Lehrerschaft in vielen Fällen nicht gerecht. Dies gilt wiederum besonders für die Deutschen Schulen und die Lateinschule, weniger für das Paedagogium, wo erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Klagen über mangelnde religiöse Disziplin merklich zunahmen.

Der letzte Abschnitt (Kap. 5) behandelt die wichtige Frage nach der Ausstrahlung der halleschen Reformkonzeptionen, wobei Axel Oberschelp die bislang vorherrschende These überprüft hat, dass die Absolventen des Lehrerseminars zu Multiplikatoren an ihren späteren Wirkungsorten wurden. Auch hier bieten die Lehrerverzeichnisse mit den biographischen Angaben zum späteren beruflichen Werdegang erste wichtige Anhaltspunkte. Hauptsächlich waren die ausgebildeten Lehrer in Brandenburg-Preußen tätig, v.a. in den Städten Berlin, Magdeburg, Brandenburg an der Havel, aber auch in Halle selbst. Insofern rekrutierte sich ein nicht geringer Teil der späteren Lehrer Brandenburg-Preußens aus dem halleschen Waisenhaus. Oberschelp untersucht anschließend daran exemplarisch sechs Schulen in der Mark Brandenburg und im Herzogtum Magdeburg, an denen in besonders hoher Konzentration hallesche Absolventen tätig waren (Pädagogien im Kloster Berge und im Kloster Unser Lieben Frauen, Saldernsche Schule in Brandenburg an der Havel, Stadtschulen in Salzwedel, Calbe und Könnern) und kommt dabei zu sehr interessanten Ergebnissen. Die sechs Fallstudien zeigen generell, dass die Umsetzung der pietistischen Reformkonzepte in hohem Maße abhängig vom jeweiligen Schulpatron gewesen ist und eben nicht vom eingesetzten Lehrpersonal. Lediglich dort, wo hallesche Absolventen als schulische Aufsichtspersonen fungierten, war eine erkennbare Übernahme einzelner pietistischer Reformbereiche möglich, etwa die Einführung des Fachklassensystems oder des Realienunterrichts. Dagegen hoben sich die in Halle ausgebildeten Lehrer in sittlicher und religiös-frommer Hinsicht offenbar positiv vom übrigen Lehrpersonal ab. Bezüglich des Ausstrahlungseffekts der pädagogisch-didaktischen Konzeptionen kommt Oberschelp somit zu einem ambivalenten und sehr differenzierten Ergebnis. Einige punktuelle, der Forschungsliteratur entnommene Hinweise zu anderen brandenburg-preußischen Schulen (Soest, Stendal, Minden) runden das gewonnene Bild ab.

Einzig zu bedauern an dieser in jeglicher Hinsicht weiterführenden, innovativen, zudem auch methodisch überzeugenden Studie ist, dass im letzten Abschnitt lediglich Schulen in Brandenburg-Preußen Berücksichtigung gefunden haben, zumal Oberschelp nachweisen konnte, dass immerhin rund 40% der halleschen Absolventen eine berufliche Zukunft außerhalb des Landes gefunden haben. Interessant wäre etwa insbesondere die Überprüfung der Ausstrahlung auf die im Jahre 1760 maßgeblich von halleschen Theologen und Pädagogen gegründete, dezidiert (spät)pietistisch ausgerichtete mecklenburgische Universität Bützow gewesen, wie insgesamt der Universität Halle als dem primären Rekrutierungsort der angehenden Lehrer in der Studie etwas zu wenig Beachtung geschenkt wird. Dies freilich tut der Qualität der Studie keinen Abbruch.

[1] Deppermann, Klaus (1961): Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.). Göttingen; Hinrichs, Carl (1971): Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung. Göttingen.

[2] Neugebauer, Wolfgang (1985): Absolutismus und Schulwirklichkeit in Brandenburg-PreuĂźen. Berlin/New York.
Matthias Asche (TĂĽbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Matthias Asche: Rezension von: Oberschelp, Axel: Das Hallesche Waisenhaus und seine Lehrer im 18. Jahrhundert, Leren und Lehren im Kontext einer frĂĽhneuzeitlichen Bildungskonzeption (Hallesche Forschungen; Bd. 19). TĂĽbingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen / Niemeyer 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/48484019.html