EWR 4 (2005), Nr. 2 (MĂ€rz/April 2005)

Winfried Böhm / Birgitta Fuchs
Erziehung nach Montessori
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2004
(134 S.; ISBN 3-7815-1309-2; 12,00 EUR)
Erziehung nach Montessori Im Vorwort zu diesem Buch machen die Autoren auf zwei Möglichkeiten einer Interpretation des Titels aufmerksam. Einerseits könne die Formulierung "Erziehung nach Montessori" im Sinne der Suche nach "unfehlbare(n) Anworten auf alle pĂ€dagogischen Fragen" verstanden werden, wodurch die Montessori-PĂ€dagogik "zu einer Art pĂ€dagogischen Heilswissens hochstilisiert" werde. Diese Intention weisen die Autoren ab und betonen demgegenĂŒber ihre kritische Absicht: "Erziehung nach Montessori kann aber auch so gemeint sein, dass praktisch tĂ€tige Erzieher und Lehrer sich mit den pĂ€dagogischen Grundgedanken und Prinzipien Maria Montessoris vertraut machen und nach dieser kritischen BeschĂ€ftigung ... zu einem eigenen Standpunkt finden und selbststĂ€ndiger pĂ€dagogisch denken und erzieherisch handeln lernen".(8) Wenn man bedenkt, dass alle in diesem Band versammelten acht VortrĂ€ge – denn um solche handelt es sich hier – vor einem Montessori-kundigen Publikum, gar Montessori-Verehrern, zum Teil vor einem "gewaltigen Auditorium" (49), vorgetragen wurden, sind die Texte auch als ein eindringlicher Appell zu verstehen, die in den Montessori-Kreisen sicher immer noch hĂ€ufig anzutreffende hagiographische Haltung zugunsten einer kritischen Einstellung zu ĂŒberwinden. So reagierten die Zuhörer bei den "nationalen und internationalen Montessori-Kongressen" denn auch "lebhaft bis erregt"(9).

Was aber kommt "nach" Montessori? Die Autoren bleiben die Antwort nicht schuldig. Sie plĂ€dieren in Abgrenzung zu einer naturalistisch und kulturalistisch (respektive sozialistisch) verstandenen Erziehung entschieden fĂŒr eine personalistische PĂ€dagogik; also fĂŒr eine PĂ€dagogik, die ihre Maßgaben schwerpunktmĂ€ĂŸig weder in der Natur (respektive in den göttlichen Gesetzen der Natur, des Kosmos‘ und der kindlichen Entwicklung) noch in den Vorgaben der Kultur oder Gesellschaft erblickt, sondern Erziehung im Medium eines kommunikativen, je offenen, unsicheren, prinzipiell auch fehlbaren Dialoges ansiedelt, der den jungen Menschen durch "Förderung von Vernunft, Freiheit und Sprache" nach und nach dazu fĂŒhrt, sein Leben "kraft vernĂŒnftiger Wahlen, kraft freier Willensentscheidungen" selbst zu gestalten (58). – Dieses ErziehungsverstĂ€ndnis bildet – jeweils mehr oder weniger explizit – den Hintergrund der kritischen Erörterungen. – Doch werfen wir einen orientierenden Blick auf die VortrĂ€ge; sechs davon sind von Winfried Böhm, zwei von Birgitta Fuchs. (Im Anhang des Bandes ist ein kurzer einschlĂ€giger Text von Montessori abgedruckt "Die Erziehung und das Kind", vgl. 127ff, in dem Montessori entgegen einem vordergrĂŒndig methodischen VerstĂ€ndnis ihrer Arbeit betont: "Ich möchte in den Mittelpunkt das Kind stellen, wie es sich rein und schlicht selbst darbietet"; 126).

Die Frage "Was bleibt ‚aktuell‘ an Montessori?" nimmt Böhm u.a. zum Anlaß, sich mit den Prinzipien der Montessori-PĂ€dagogik auseinander zu setzen, als deren wichtigstes er den "immanenten Bauplan" als "latent vorhandene( ) ‚eigene( ) Persönlichkeit‘" sieht, der die "passende Entwicklungsfreiheit und eine entsprechend förderliche Umgebung bereitgestellt werden" mĂŒsse.(26) Montessori verlasse dann eine im engeren Sinne wissenschaftliche GedankenfĂŒhrung und verankert die Entwicklungsgesetze im göttlichen Willen, so daß mit der Erkenntnis dieser Gesetze sich zugleich der "Geist und die Weisheit Gottes"(Montessori) erschließe (27). Im Anschluss an diese prinzipielle Bestimmung gibt Böhm eine konzise Zusammenfassung auch der praktischen Aspekte der PĂ€dagogik Montessoris – und zeigt so den engen Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis bei Montessori auf. Allerdings bleibt die Antwort auf die Frage nach der AktualitĂ€t Montessoris recht unbestimmt. Dass sie "im Sinne von Mode" (an vielen heutigen Neuerungen in der Erziehung, vor allem in Kindergarten und Schule ist Montessori ein bedeutsamer Anteil zuzusprechen) wie auch "im Sinne der GleichlĂ€ufigkeit der Probleme" (d.h. gleiche oder Ă€hnliche Probleme in der Erziehung damals wie heute) aktuell ist, wird deutlich gemacht. Auf "unsere interessanteste Frage" aber, "ob und – wenn ja – was denn an Montessori bleibend gĂŒltig ist ..." (15), also die Frage nach ihrer "AktualitĂ€t im Sinne des Klassischen" (23ff) bleibt Böhm die Antwort letztlich schuldig. Er mĂŒĂŸte sie nĂ€mlich eigentlich unter der PrĂ€misse (s)eines personalistischen ErziehungsverstĂ€ndnisses (vgl. 23 unten) verneinen, denn "personale Selbstgestaltung" ist Montessoris Sache nicht. Unter dieser Perspektive kann bei Montessori nur wenig als "bleibend gĂŒltig" anerkannt werden. Die implizite Kritik wird (an dieser Stelle) bei Böhm nicht ausgefĂŒhrt – und er schließt seinen Vortrag mit dem Hinweis auf die "große Faszination dieser Frau". "Gewiß wĂ€re es nötig, diesen zentralen Gedanken Montessoris selbst einer kritischen PrĂŒfung zu unterziehen. Das ist jedoch nicht mehr die Aufgabe dieses Referates"(32). Mit diesem Verzicht kann dann auch die "interessanteste Frage" (s.o.) nicht oder nicht mehr beantwortet werden. Theoretische Argumente fĂŒr das Urteil bleibender GĂŒltigkeit werden nicht geliefert – können vielleicht auch nicht geliefert werden? Und so bleibt die Antwort im Dunkeln.

Der zweite Beitrag "Maria Montessori in der PĂ€dagogik des 20. Jahrhunderts – implizit und explizit" (W.Böhm, 35ff) ist ein Versuch, Montessori sowohl theoretisch-systematisch als auch (implizit)wirkungsgeschichtlich zu verorten. Zur ersten Frage kann sich Böhm auf seine "ĂŒber 600 Seiten dicke" Montessori-Bibliographie stĂŒtzen. Er betont den naturalistischen Grundzug ihrer PĂ€dagogik, der als ein solcher mit der das 19. Jahrhundert weithin bestimmenden "Idee des Fortschritts" respektive der Evolution korrespondiert; bei Montessori nun aber nicht im Darwin‘schen Sinne, sondern unter dem Eindruck theosophischer Gedanken gegrĂŒndet auf die Idee einer alles umfassenden Ordnung, in der jeder seinen Platz und seine ihm bestimmte Aufgabe zur Darstellung der kosmischen Harmonie und zur Sicherung des Friedens einnimmt. – Einen interessanten Gedankengang entfaltet Böhm dann bei der Frage nach der impliziten PrĂ€sens Montessoris. Er geht dabei auch auf die Postmoderne ein, deren Charakteristikum er – mit Bezug auf Francois Lyotard – "durch die UnglĂ€ubigkeit gegenĂŒber den großen Meta-ErzĂ€hlungen gekennzeichnet" sieht (45). Und der Leser mag in Gedanken ergĂ€nzen: auch die grandiose Vision Montessoris ist eine solche Meta-ErzĂ€hlung. Angesichts dieses "Chaos", also des kollektiven Glaubensverlustes, sieht Böhm "fĂŒr die abendlĂ€ndische Erziehung"(45) drei Alternativen, nĂ€mlich 1. die destruktiv-pessimistische Variante: Kapitulation – Abschaffung der Schule und der Erziehung; 2. Die konstruktiv-optimistische Variante: eine personalistische PĂ€dagogik, "welche den Einsturz der objektiven Ordnungen nicht als einen Verlust, sondern als einen Gewinn betrachten und als die große Chance fĂŒr die Autonomie der menschlichen Person" betrachten kann"(46); 3. "Maria Montessori". Wie ist diese "dritte Alternative" zu verstehen? Nach Böhm wĂ€re Montessori (wie die Personalisten?) "glĂŒcklich ĂŒber den Einsturz der von Menschen erfundenen und von Menschen geschaffenen Ordnungen, weil nĂ€mlich genau dieser Einsturz die Herrschaft von Menschen ĂŒber Menschen beseitigen und den permanenten Kampf zwischen Erwachsenen und Kindern beenden kann. Ich bin sicher ..., dass sie das Verschwinden der Ideologien ebenso begrĂŒĂŸen wĂŒrde wie das Ende dogmatischer Wahrheiten. Denn sie war die große VisionĂ€rin einer von Gott geschaffenen Ordnung, ...." Umwelt und Erziehung mĂŒsse nach Montessori "der göttlichen Bestimmung Raum" geben, "sich zu entwickeln und zu verwirklichen"(ebd.). Böhm weiter: "Ich komme an dieser Stelle jĂ€h, aber nicht unerwartet zum Ende". – Der Leser fragt sich sogleich: warum an dieser Stelle, und warum "jĂ€h" und – fĂŒr wen – "nicht unerwartet"? Es scheint so, als wolle Böhm Montessoris Theorie aus dem Kreis der unglaubhaft oder unglaubwĂŒrdig gewordenen Meta-ErzĂ€hlungen heraushalten, obwohl er doch mit seinem Referat deren Zugehörigkeit zu diesem Kreis eindringlich vor Augen gefĂŒhrt hat. Mit dem jĂ€hen Ende "an dieser Stelle" hat er wohl vor dem "23. Internationalen Montessori-Kongress" 1999 in Cancun (Mexiko) die implizite Konsequenz seines Gedankengangs nicht explizit ziehen wollen: dass nĂ€mlich Montessori sich nicht personalistisch interpretieren lĂ€ĂŸt; dass sie mithin keine PĂ€dagogik des Dialoges (geschweige denn des Konfliktes) kennt; dass sie holistisch-dogmatischen und teleologischen, eben vormodernen Denktraditionen verhaftet ist. Gleichwohl nimmt Böhm den Vortragsfaden wieder auf, spinnt ihn aber in eine andere Richtung, die einer Huldigung Montessoris gleichkommt. "Man mag diese Idee Montessoris teilen oder nicht, .... Über eines kann es keinen Zweifel geben: Es war Maria Montessori, die diese Botschaft mit unvergleichlicher Brillanz, mit bewundernswerter Rhetorik und mit dem Zeugnis ihrer ganzen Persönlichkeit verkĂŒndet hat." (ebd.) – Das ist wohl wahr. Aber gleiches ließe sich auch fĂŒr ReprĂ€sentanten anderer "großer Meta-ErzĂ€hlungen" anfĂŒhren.

Im dritten Beitrag "Maria Montessori und die Integration der Kulturen" (W.Böhm) geht es explizit um zwei Fragen: "Ich werde im ersten Teil meines Vortrages zu erklĂ€ren versuchen, was es heißt, bei Maria Montessori von einem globalen und umfassenden Erziehungsbegriff zu sprechen. Im zweiten Teil meines Vortrages werde ich Maria Montessoris Erziehungsbegriff den Erziehungstheorien einiger anderer großer Erziehungsphilosophen gegenĂŒberstellen, um auf diese Weise die PĂ€dagogik Maria Montessoris in noch schĂ€rferen Umrissen, aber gleichzeitig in ihren Möglichkeiten und Grenzen darstellen zu können"(50). Im ersten Teil, auf den hier nicht nĂ€her eingegangen werden soll, betont Böhm – ganz im Sinne Montessoris und ihres im Anhang des Buches wiedergegebenen Textes –, dass Montessori angemessen nicht als Schöpferin einer Methode verstanden werden kann, sondern nur in Zusammenhang mit ihrer Erziehungstheorie, die einer "Vision von utopischer Faszination" gleichkomme, eine Vision, die im Prinzip "alle Menschen dieser Welt teilen und akzeptieren können"(59) Gemeint ist an dieser Stelle der Glaube "an göttliche KrĂ€fte im Kind", die zum Heil seiner selbst und der Welt nach Entwicklung dĂŒrsten. – Im zweiten Teil seines Vortrages kontrastiert Böhm Montessoris Erziehungsbegriff mit dem anderer Theoretiker der "rund dreitausend Jahre abendlĂ€ndischer Erziehungsgeschichte", und zwar jene "nur fĂŒnf", die hinsichtlich der frĂŒhkindlichen Erziehung als "gleichberechtigt an die Seite von Maria Montessoris Erziehungstheorie treten können"(57). Es handelt sich um folgende – und in Klammern fĂŒge ich den von Böhm ins Auge gefaßten erzieherischen Schwerpunkt der jeweiligen Theorien hinzu: Pestalozzi ("Mutter", "Familie"); Herbart ("Lernen"); Rousseau ("Erfahrung"); Montessori ("normale Entwicklung"); Fröbel ("Spiel"); und Böhm selbst – als exponierter Vertreter der Theorie des Personalismus ("MĂŒndigkeit der Person"). – Böhm plĂ€diert nun nicht fĂŒr eine unkritische Übernahme der einen oder der anderen Theorie, weist vielmehr auf das relative Recht einer jeden hin und fordert eine grĂŒndliche und gewissenhafte PrĂŒfung vor einer möglichen Entscheidung. – Aber auch hier wird nicht deutlich, wie seine eigene personalistische Position theoretisch mit Montessori zu vermitteln wĂ€re.

Inhaltlich wird jedoch seine eigene Position im Kontrast zu anderen exemplarischen Denkmöglichkeiten dann in dem Beitrag "Ein personalistischer Zugang zu Sprache und Kommunikation" weiter entfaltet. Auch hier bedient sich Böhm des kontrastierenden Verfahrens, indem er aus der "2.500 Jahre langen Geschichte" jene "eigentlich nur drei wichtige(n) Theorien" skizziert, "die im Laufe der Jahrhunderte die Erziehung unterschiedlich interpretiert und dementsprechend unterschiedlich gestaltet haben"(65). Alle drei beruhen auf der "selbstverstĂ€ndlichen Erfahrung, dass sich das Menschwerden des Menschen in dem SpannungsverhĂ€ltnis von drei Polen vollzieht: Natur, Kultur (bzw. Gesellschaft) und Person"(ebd.). Keine diskussionswĂŒrdige PĂ€dagogik leugnet einen der Pole gĂ€nzlich. "Der Unterschied erwĂ€chst vielmehr daraus, dass sie diese drei Faktoren unterschiedlich gewichten und sie in eine hierarchische Ordnung bringen"(66). Dementsprechend kann von einer "naturalistischen", einer "kulturalistischen" bzw. "sozialistischen" und drittens von einer "personalistischen Perspektive" gesprochen werden. Diese drei AnsĂ€tze werden im Hinblick auf die Bedeutung von Sprache und Kommunikation in der Erziehung reflektiert. Dass Montessori der ersteren Gruppe von Erziehungstheorien zuzuordnen ist, wird nicht eigens herausgestellt, ist aber dennoch deutlich. Hier werde "Freiheit nur in einem sehr eingeschrĂ€nkten Sinne verstanden, nĂ€mlich als biologische Entwicklungsfreiheit"(67). Und dass Böhms Sympathie vor allem der dritten Perspektive gilt, dĂŒrfte klar sein. Denn: "Nur in dieser dritten Erziehungsphilosophie wird die Freiheit zum HerzstĂŒck der PĂ€dagogik ... Freiheit ist hier in ihrem vollen Sinne sittliche und personale Freiheit, von der weder in der naturalistischen noch in der sozialistischen eine richtige Idee besteht"(71).

Eine Ă€hnliche Denkfigur skizziert W. Böhm in dem Vortrag "Gnade und Erziehung. Ein Problemaufriß im Anschluß an Augustinus, Montessori und Rousseau". Auch hier lernen wir drei verschiedene Modelle kennen, nun bezogen darauf, "wie das VerhĂ€ltnis von Gnade und Erziehung gedacht werden kann"(85). Böhm unterscheidet (a) einen statischen Begriff von Gnade, der einem naturalistischen Bild von Welt und Erziehung entspricht und dem Montessori zuzuordnen ist, (b) einen mechanischen Begriff von Gnade, der einer negativen Anthropologie (ErbsĂŒnde) entspringt und sich exemplarisch in der jansenistischen PĂ€dagogik zeige (nach dem hollĂ€ndischen Theologen des 17. Jahrhunderts Cornelius Jansenius), aber auch bei den Pietisten und Calvinisten – und schließlich (c) einen personalistischen Begriff von Gnade, der sich auf einen richtig verstandenen Augustinus und vor allem auf Rousseau zurĂŒckfĂŒhren lasse. Analog zur personalistischen PĂ€dagogik ĂŒberhaupt kommt nur im dritten Begriff von Gnade eine Position zur Geltung, die der Eigenverantwortlichkeit und Freiheit des Menschen entspricht. "Nur in dieser Position ist wirklich die Rede von der Freiheit des Kindes"(98).

In dem Beitrag "Der Friede als das letzte Ziel der Erziehung" untersucht Böhm nach dem Aufweis der "jĂŒdisch-christlichen Wurzeln" sowie der "politischen und sozialen Wurzeln" und der "anthropologischen Wurzeln der Friedensidee" die "Erziehung zum Frieden bei Maria Montessori?" Das Fragezeichen signalisiert bereits einen Zweifel hinsichtlich der Möglichkeit, bei Montessori von "Erziehung zum Frieden" zu sprechen. Das muß Montessorianern gewiß als Provokation erscheinen, denn ihre Dotteressa hatte sich zweifellos zeitlebens fĂŒr den Frieden eingesetzt. Auf dem Hintergrund einer personalistischen PĂ€dagogik muß Montessoris Friedenserziehung nun aber in der Tat eher als eine Anpassung an die vom "himmlischen Geometer" geschaffene kosmische Ordnung erscheinen denn als Erziehung zum vernĂŒnftigen Gebrauch der Freiheit. So resĂŒmiert denn auch Böhm seine Untersuchung mit den Worten – und rĂŒckt dabei zugleich Montessoris Anspruch einer PĂ€dagogik vom Kinde aus in ein kritisches Licht: "Hier (in der Voraussetzung einer kosmischen Ordnung, in der sittliche Freiheit kein Stellenwert zukommt – E.S.) liegt der tiefe Grund dafĂŒr, dass Maria Montessori nicht um die Vernunft und um den freien Willen des Kindes besorgt ist, sondern um seine normale Entwickung. ... d.h. auf seine Einbettung bzw. Wiedereinbettung in die von Gott, dem himmlischen Geometer und Evolutionsdesigner, geschaffene kosmische Ordnung. ... FĂŒr Maria Montessori ist der Friede nicht nur das letzte Ziel der Erziehung, sondern gleichzeitig ihr erster Anfang. ..." Entgegen der Vorstellung, bei Montessori stehe das Kind im Mittelpunkt, könne dann gesagt werden, "dass im Mittelpunkt von Maria Montessoris Denken die kosmische Ordnung und eben nicht das Kind steht. Zumindest im Hinblick auf das Problem des Friedens verhĂ€lt es sich bei ihr ganz offensichtlich so. Es wĂ€re daher fĂŒr die Montessori-Forschung eine interessante Aufgabe zu untersuchen, ob das nicht fĂŒr ihre gesamte PĂ€dagogik gilt. Dann allerdings wĂŒrde sich unser bisheriges VerstĂ€ndnis der Montessori-PĂ€dagogik radikal verĂ€ndern, ..."(82).

Die letzten beiden BeitrĂ€ge des vorliegenden Buches – sie sind von Birgitta Fuchs – vertiefen und erweitern im Grunde diese kritische Perspektive. Denn auch "Die Grundlagen der religiösen Erziehung bei Maria Montessori" sind nach Ansicht der Autorin und in kritischer Distanz zu manchen Interpreten nicht im (katholischen) Christentum zu sehen, sondern vor allem in der Theosophie und in einem physikotheologischen WeltverstĂ€ndnis, das alles mit allem in einer pĂ€stabilierten kosmischen Ordnung in Wechselwirkung und in der BotmĂ€ĂŸigkeit Gottes begreift. Montessori: "Wir alle bilden einen einzigen Organismus, eine einzige Nation. ... schon ist eine neue Gesellschaft im Werden. Eine neue Menschheit wird fĂŒr eine neue Welt geboren"(106). Bei diesem Prozeß dient der Mensch als Werkzeug, das – so Fuchs – "mit Hilfe seiner Vernunft den Ruf der Natur als Ruf Gottes vernehmen kann", aber es gibt "keinen echten Dialog zwischen Gott und Mensch, so wie es innerhalb von Montessoris ErziehungsverstĂ€ndnis keinen echten Dialog zwischen Erzieher und Zögling zu geben braucht"(113). Es handelt sich also um eine Religion, die ohne echtes Gebet – und um eine Erziehung, die ohne personale Begegnung auskommt. Letztendlich gehe es dann nur um die "intensive EinfĂŒhrung in die kosmische Weltsicht"(ebd.). Birgitta Fuchs erscheint es plausibel, dass "Montessoris Denken von Grund auf und von Anfang an physikotheologisch bestimmt war und sie sich von dieser Bestimmung zeitlebens nie befreit hat." Zu dem oft "erhobenen Vorwurf des biologischen Naturalismus" komme so "zusĂ€tzlich der Vorwurf des theologischen Naturalismus" hinzu.

Der letzte Beitrag widmet sich einer in der deutschen Diskussion bisher wenig beachteten Facette von Montessoris Werk. Der Beitrag trĂ€gt den Titel "Ursprung, Intention und Grenzen der Kosmischen Theorie Maria Montessoris" – ein Aspekt, der fĂŒr Montessoris PĂ€dagogik durchaus fundamentalen Charakter hat, war sie doch bemĂŒht mit ihrer "kosmischen Erziehung" (s.o.) den Grundstein fĂŒr die Vermittlung ihres Weltbildes zu legen. Birgitta Fuchs geht der Frage nach – und auch hier wird der kritische Hintergrund einer Option fĂŒr die personalistische PĂ€dagogik sichtbar: "Kann die kosmische Weltsicht Maria Montessoris und die von ihr vorgelegte Interpretation der sozialen Evolution des Menschen heute noch ungeprĂŒft als tragfĂ€hige Basis unseres Nachdenkens ĂŒber die Erziehung und Bildung des Menschen dienen, oder muß nicht vielmehr an die Stelle der VerkĂŒndigung einer von Gott geschaffenen und verbĂŒrgten kosmischen Weltordnung die Konfrontation mit pluralen Weltdeutungen und der kritische Diskurs ĂŒber eine mögliche Weltsicht treten?"(115). In die Frage ist die Antwort bereits eingearbeitet. Sie wird freilich nicht umstandslos gegeben, sondern nach einer Aufhellung von Montessoris erkenntnistheoretischen PrĂ€missen und der UrsprĂŒnge ihrer Kosmischen Theorie (u.a. Hume und Comte als Vertreter eines technizistisch orientierten Empirismus und Positivismus; Stoppani – Montessoris Onkel – und Haeckel als Vertreter eines kosmisch-organologischen Entwicklungs- und Einheitsglaubens) differenziert entfaltet. Von ihr selbst unerkannt handele es sich bei Montessori letztlich um Glaubensaussagen, die mit der AutoritĂ€t naturwissenschaftlicher Erkenntnis vorgetragen werde; eine positive AutoritĂ€t, die diesem "metaphysischen Hintergrund ihres Denkens ... letztlich nicht zukommen kann"(124). Und Fuchs mahnt konsequenterweise die "dringend erforderliche( ) Historisierung dieses vormodernen und antiaufklĂ€rererischen holistischen Denkens" an, wenn die Montessori-PĂ€dagogik sich nicht selbst "als eine WeltanschauungspĂ€dagogik" mit Glaubenscharakter erweisen wolle.



Fazit: Es handelt sich um bemerkenswerte BeitrĂ€ge, die in ihrer Gesamtheit nicht nur die Kontroverse um Montessori bereichern, sondern darĂŒber hinaus implizit auch Hinweise enthalten zur kritischen Aufarbeitung anderer reformpĂ€dagogischer AnsĂ€tze. Freilich kann ich auch eine gewisse EnttĂ€uschung nicht verhehlen. Ich habe das Buch "Erziehung nach Montessori" auch in die Hand genommen in Erwartung eines dritten möglichen VerstĂ€ndnisses des Wortes "nach", nĂ€mlich im Sinne von "im Anschluß an" oder "ausgehend von". Das hĂ€tte keineswegs in eine hagiographische Abhandlung mĂŒnden mĂŒssen, sondern in der Perspektive einer Weiterentwicklung, eines Weiterdenkens montessorianischer AnsĂ€tze oder in dem Versuch einer Vermittlung mit dem (eigenen) personalistischen Ansatz liegen können. Ein solcher Versuch ist an keiner Stelle des Buches zu erkennen und er lag auch nicht in der Absicht der beiden Autoren. Vielleicht handelt es sich bei Montessori wirklich um einen hermetischen Theorieansatz, der nur geglaubt oder kritisiert werden kann – Ă€hnlich wie andere Systeme der ReformpĂ€dagogik (etwa von Rudolf Steiner), in deren AnhĂ€ngerschaft es wohl affirmative Exegese, aber keine substanzielle Kritik oder WeiterfĂŒhrung gibt? Nach der Möglichkeit einer WeiterfĂŒhrung soll zumindest an dieser Stelle gefragt werden – und man kann auf die Antwort der Montessori-Apologetinnen und –apologeten gespannt sein; denn die Beweislast der hier vorgetragenen kritischen Argumente ist m.E. durchaus ĂŒberzeugend. – Eine WeiterfĂŒhrung oder Vermittlung mit neueren Theorien ist also nicht zu erkennen. So hĂ€tte der Titel des Werkes treffender lauten können: "Die PĂ€dagogik Montessoris im Focus einer personalistisch orientierten Kritik".
Ehrenhard Skiera (Flensburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ehrenhard Skiera: Rezension von: Böhm, Winfried / Fuchs, Birgitta: Erziehung nach Montessori, Julius Klinkhardt: Bad Heilbrunn 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 2 (Veröffentlicht am 06.04.2005), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/78151309.html