EWR 4 (2005), Nr. 2 (März/April 2005)

Corinna Schütz
Leistungsbezogenes Denken hochbegabter Jugendlicher
"Die Schule mach' ich doch mit links"
Münster: Waxmann 2004
(240 S.; ISBN 3-8309-1355-9; 25,50 )
Leistungsbezogenes Denken hochbegabter Jugendlicher "I muß net [..] für mei eigenes Selbstvertraun […] mit meinem Zeugnis zu andere Leit hiegehn […] und 'Schau, i hob an Aanser, wos hast Du, hast an Dreier, - Pfeife! - ' des brauch i net […] Es hat mich nie sehr interessiert, was die Leit vo mir halten, ob die jetzt moanen, i bin a Depp oder net, i woaß dass i koaner bi, des langt mer im Prinzip" [1], meint im Interview der "Großherzog", ein hochbegabter Jugendlicher mit eher schwachen Schulleistungen (mehr als eineinhalb Standardabweichungen unter seinem Begabungsniveau), der weiter von sich sagt, das "Prinzip vom Minimalerfolg" zu vertreten (ebd.). In der Öffentlichkeit und der populären Literatur werden Hochbegabte dagegen oft als problembeladen, selbstkritisch oder unzufrieden mit den eigenen Leistungen beschrieben. Diese Berichte gehen vielfach auf Einzelfalldarstellungen oder Erfahrungen aus dem Klientel von (speziellen) begabungspsychologischen Beratungsstellen zurück. Der "Großherzog" wurde im Rahmen der Münchener Längsschnittstudie zur Hochbegabung befragt. Corinna Schütz stellt ihrer Arbeit, die von der Universität Marburg als Dissertation angenommen wurde, ein ganz ähnliches Zitat eines hochbegabten Jugendlichen voraus, an dem ebenfalls ein hohes leistungsbezogenes Selbstkonzept sichtbar wird.

Aus diesen Beispielen wird deutlich, dass es für das Verständnis von Hochbegabung und der Situation hochbegabter Kinder und Jugendlicher nicht ausreicht, nur auf eine mehr oder weniger große Teilgruppe von Problemfällen zu sehen, sondern dass im Gegensatz dazu empirische Untersuchungen notwendig sind, die wie die Marburger oder Münchener Hochbegabungsstudie den Weg wählen, Stichproben von hochbegabten Kindern und Jugendlichen aus Normalpopulationen zu ziehen, wie erfolgreich letzteres im einzelnen auch immer gelingen mag.

Von daher muss man besonders der Marburger Arbeitsgruppe dankbar sein, dass die Fachwelt immer wieder mit Monographien auf der Basis von Dissertationen versorgt wird, die auf die methodisch gut angelegte Marburger Studie zurückgehen. Ohne ein Gesamtresümee voraus nehmen zu wollen, sei konstatiert, dass auch dem Buch von Corinna Schütz bereits aus diesem Grunde eine weite Verbreitung nicht nur in wissenschaftlichen Kreisen, sondern auch bei Praktikern in schulpsychologischen Diensten oder Erziehungsberatungsstellen und vielleicht auch bei pädagogisch und psychologisch vorgebildeten Laien zu wünschen ist.

Nach der Einleitung, in der besonders auch die Rolle von Motivation und Selbstkonzept von Mädchen und Frauen in Bezug auf Aktivitäten und Leistungen auf mathematischen und naturwissenschaftlichen Domänen hervorgehoben wird, beginnt Frau Schütz ihr Buch mit einem Kapitel über Hochbegabung. Dabei werden die "üblichen Verdächtigen verhaftet", d.h. die Definitionen und Modelle von Renzulli, Wieczerkowski und Wagner, Sternberg, Mönks, Gagné, der ehemaligen Münchener Arbeitsgruppe von Heller sowie der Marburger Arbeitsgruppe um Rost angesprochen, wobei die Verfasserin das letztgenannte Modell klar favorisiert, resultiert ihr Buch doch auch aus einem langjährigen Engagement in dieser Arbeitsgruppe bzw. in der Marburger Hochbegabungsstudie. Diese sind bei Lesern, die sich für Hochbegabung interessieren, einschlägig bekannt und werden daher auch nur knapp abgehandelt. Aber auch der weniger mit Hochbegabung vertraute Leser kann sich anhand der Darstellung ein gutes Bild über den Stand der Forschung am Ende des letzten Jahrzehnts machen. Sehr positiv sind dabei die kurzen aber prägnanten Diskussionen der einzelnen Ansätze, die jeweils die wesentlichen Stärken und Schwachpunkte klar benennen.

Das folgende Theoriekapitel befasst sich mit kognitiv-motivationalen Determinanten leistungsbezogenen Handelns. In diesem Kapitel werden die Theorien dargestellt, die die Diskussion zu diesem Thema in den letzten 20 Jahren wesentlich geprägt haben. Frau Schütz spannt den Bogen von der klassischen Attributionstheorie der Leistungsmotivation von Weiner aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts über Ansätze, die stärker auf informationstheoretische Theorieelemente rekurrieren bis hin zu aktuellen Handlungstheorien, wobei neben den einschlägigen internationalen Autoren auch aktuelle Ansätze aus dem deutschsprachigen Raum zitiert werden. Auch hier gefällt wieder, dass die Verfasserin insgesamt fast kompendienhaft und für eine eigentlich empirische Arbeit einen recht ausführlichen und guten Überblick über die Diskussion gibt, wobei insbesondere die kritische und kompetente Kommentierung der präsentierten Ansätze wieder einen Vorzug der Darstellung ausmacht. Diese Kritik trifft vielfach recht genau die Punkte und spießt die entscheidenden Vor- oder Nachteile auf. Sehr gut gelungen, wie auch im übrigen Buch, ist die Zusammenfassung. Die Darstellung könnte gut für entsprechende Seminarsitzungen oder Vorlesungseinheiten genutzt werden. Kritisch kann lediglich angemerkt werden, dass die Sichtung der Literatur irgendwann gegen Ende des letzten Jahrzehnts aufhört und insbesondere eine Reihe von Artikel zum Thema, die um die Jahrhundertwende oder danach erschienen sind, nicht berücksichtigt werden (z.B. die Arbeiten von Ziegler oder Stiensmeier-Pelster und Kollegen).

Dieselbe Kritik kann auch am nächsten Kapitel geübt werden, auch hier fehlen einige aktuelle Untersuchungen, selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die dem Buch zugrunde liegende Dissertation bereits 2002 angenommen wurde. Ansonsten werden in diesem Kapitel eine Fülle von empirischen Befunden zum Zusammenhang von Leistungskognitionen, Leistung und Hochbegabung präsentiert und am Ende des Kapitels in einer ausführlichen Tabelle übersichtlich und doch genau zusammengestellt. In diesem Zusammenhang wird auch ausführlich auf Geschlechtsunterschiede bei hochbegabten und hochleistenden Schülerinnen und Schülern eingegangen. Am Ende des Kapitels werden sodann im Anschluss an die gelungene Zusammenfassung die Fragestellungen der eigenen Untersuchung spezifiziert, wobei besonders auf eine Reihe von Forschungslücken eingegangen wird, die der vorausgehende Literaturüberblick hat erkennen lassen.

Im anschließenden Methodenkapitel, das mit mehr als 50 Seiten etwa ein Viertel des Textes der Arbeit umfasst, werden sehr ausführlich und detailliert, wie es eben für Dissertationen üblich ist, Stichprobe, Erhebungsmethoden, Durchführung und Auswertung der Studie beschrieben. Dadurch kann sich auch der Leser, der die Marburger Hochbegabungsstudie nicht kennt, ein gutes Bild über das methodische Vorgehen bei dieser Untersuchung machen, die zusammen mit der Münchener Hochbegabungsstudie die wichtigste Unternehmung darstellte, Entwicklung und Persönlichkeit hochbegabter Kinder und Jugendlicher zu analysieren.

Die Marburger Studie startete 1987/88 mit einer bundesweiten Stichprobe von gut 7000 unausgelesenen Grundschulkindern aus 390 dritten Klassen, die alle mit drei Testverfahren auf ihre kognitive Leistungsfähigkeit hin untersucht wurden. Zugrunde gelegt wurde eine Definition von (intellektueller) Hochbegabung, die auf das Konzept der allgemeinen Intelligenz rekurrierte. Aus dieser Ausgangsstichprobe wurde eine Stichprobe von 151 hochbegabten Kindern (IQ 126-156, Mittel bei 135) sowie eine Vergleichsstichprobe (IQ 85-114, Mittel bei 102) zusammengestellt, die nach Geschlecht, Klassenzugehörigkeit oder zumindest Schulzugehörigkeit und sozioökonomischem Familienhintergrund (letztere Variabel beruhte auf Lehrereinschätzung) parallelisiert wurde. Bei diesen beiden Stichproben wurden ein Jahr später (1988/89) ausführlich Daten in den Familien und in der Schule erhoben. In den Jahren 1994 sowie 1995/96 wurden die inzwischen 15jährigen Teilnehmer von Hochbegabungs- und Vergleichsgruppe ein weiteres Mal psychologisch in Familien und postalisch (Fragebögen) untersucht. Dabei wurde die Intelligenz der Teilnehmer erneut überprüft und für die Analysezwecke dieser Auswertungen solche Kinder als hochbegabt eingestuft, die einen IQ über 125 aufwiesen. Dies ist etwas geringer als der vielfach benutzt Grenzwert von IQ 130, das strengere Kriterium hätte aber die Stichprobe hochbegabter Jugendlicher zu sehr reduziert. Für Analysezwecke wurden aus dieser Längsschnittstichprobe weitere Teilstichproben unter Einbeziehung von Leistungskriterien gebildet. In dieser Projektphase (1994-1997) wurde nämlich eine Ergänzungsstichprobe ostdeutscher Jugendlicher dazu rekrutiert, bei der ausschließlich das Kriterium der Schulleistung eine Rolle spielte. Insgesamt konnten 134 hochleistende Jugendliche und 122 Vergleichspersonen für die Studie gewonnen werden.

Jedenfalls beschreibt die Verfasserin das aufwändige methodische Vorgehen der Marburger Studie so, dass man sich in kurzer Zeit recht detailliert über Vorgehen, Stichprobe und Methoden (einschließlich der verwendeten Test- und Fragebogen und Interviewverfahren) informieren kann. Tabellen und Abbildungen unterstützen dabei das Verständnis.

Im folgenden Ergebniskapitel werden ebenfalls sehr genau die Befunde zu den einzelnen Hypothesen dargestellt, wobei für das genaue Verständnis eine erhebliche Kenntnis empirischer Methodik und statistischer Analyseverfahren notwendig ist. Der damit wenig vertraute Leser kann sich zumindest am Ende jeden Hauptabschnitts dennoch auf noch recht detaillierter Ebene in kurzen Zusammenfassungen über die Ergebnisse informieren. In Diskussion und Zusammenfassung werden die Befunde nochmals im Überblick dargestellt und im Hinblick auf theoretische Implikationen und praktische Folgerungen diskutiert.

Dabei wird deutlich, dass doch eine Reihe der populären Annahmen über Hochbegabung und hochbegabte Kinder und Jugendliche nicht zutreffen, wenn man von unausgelesenen Stichproben ausgeht und nicht an Beratungsklientel forscht. So erweisen sich hochbegabte Mädchen nicht als besondere Risikogruppe, auch wenn sie, wie in anderen Untersuchungen auch, ihre Fähigkeiten besonders für Mathematik unterschätzen. Vor allem können die Befunde aber keine Belege für die populäre Behauptung finden, dass Hochbegabte an normalen Schulen durch permanente Unterforderung demotiviert würden und litten, auch wenn sie insgesamt ihre Fähigkeiten eher unterschätzen.

Frau Schütz kommt auch zu dem theoretisch wichtigen Schluss, dass Kontrollüberzeugungen und andere motivationale Variable für das, was Hochbegabung konstituiert, keine besondere Bedeutung hätten, weil sich Hochbegabte in diesen Variablen von anderen Jugendlichen eben nicht unterscheiden und im Großen und Ganzen ihre Fähigkeiten zwar etwas unterschätzen, aber dennoch für ausgeprägter hielten als die Jugendlichen der Vergleichsgruppe. Damit wären diese Variabel für die Hochbegabungsdiagnose letztlich auch entbehrlich.

Das soll nun nicht heißen, dass Corinna Schütz zu dem Schluss käme, dass für Hochbegabte keine Förderung nötig sei. So stellt etwa der Befund, dass Hochbegabte besonders wenig Unterstützung wahrnehmen, für Pädagogen und Bildungspolitiker eine Aufforderung dar, soziale und emotionale Probleme hochbegabter Kinder und Jugendlicher ernster zu nehmen. Auch zeigt sich, dass den mathematisch hochleistenden Jugendlichen an den normalen Schulen durchaus anspruchsvollere Probleme vorgesetzt werden könnten, was nicht erst die seit PISA und IGLU bekannte Tatsache unterstreicht, dass deutsche Lehrkräfte ihre liebe Not beim Umgang mit Heterogenität haben.

Das Buch setzt damit die Tradition der Marburger Arbeitsgruppe fort [2,3], populäre Annahmen zur Hochbegabung kritisch zu hinterfragen, einer strengen empirischen Prüfung zu unterziehen und praktische Implikationen für die Förderung hochbegabter Kinder und Jugendlicher abzuleiten.

Anmerkungen:

[1] Perleth, Ch./Sierwald, W. (2001): Entwicklungs- und Leistungsanalysen zur Hochbegabung. In: K. A. Heller (Hrsg.): Hochbegabung im Kindes- und Jugendalter. Göttingen: Hogrefe2, S. 345.

[2] Rost, D. H. (Hrsg.). (1993): Lebensumweltanalyse hochbegabter Kinder. Göttingen: Hogrefe.

[3] Rost, D. H. (Hrsg.). (2000): Hochbegabte und hochleistende Jugendliche. Münster: Waxmann.
Christoph Perleth (Rostock)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christoph Perleth: Rezension von: Schütz, Corinna: Leistungsbezogenes Denken hochbegabter Jugendlicher, "Die Schule mach' ich doch mit links", Münster: Waxmann 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 2 (Veröffentlicht am 06.04.2005), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/83091355.html