EWR 5 (2006), Nr. 5 (September/Oktober 2006)

Heidemarie Kemnitz / Christian Ritzi (Hrsg.)
Die preußischen Regulative von 1854 im Kontext der deutschen Bildungsgeschichte
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2005
(186 S.; ISBN 3-89676-984-7; 19,80 EUR)
Die preußischen Regulative von 1854 im Kontext der deutschen Bildungsgeschichte Die drei preußischen Regulative „Über die Einrichtung des evangelischen Seminar-, PrĂ€paranden- und Elementarschulunterrichts” aus dem Jahr 1854, die der Geheime Regierungsrat im preußischen Kultusministerium Ferdinand Stiehl (1812-1878) unter wohlwollender Aufsicht des Ministers Karl Otto von Raumer verfasst hat, sind in der historischen Bildungsforschung schon oft und eingehend analysiert und seit der zweiten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts nahezu unisono als Inbegriff reaktionĂ€rer Bildungspolitik gescholten worden: Von Eduard Spranger ĂŒber Folkert Meyer bis hin zu Albert Reble ließen kompetente deutsche Bildungshistoriker kein gutes Haar an den Regulativen, rĂŒgten sie als „dunkle[n] Fleck in der Geschichte der preußischen Volksschule” [1], als schĂ€ndliche Grundordnung einer „Schule der Untertanen” [2] und als schwerwiegenden schulpolitischen „RĂŒckschlag” [3]. Deshalb schien es fĂŒr einschlĂ€gig ausgewiesene PĂ€dagogen und Historiker auch bis in allerjĂŒngste Zeit wenig attraktiv und noch dazu sehr unnötig, eine grundsĂ€tzliche Neubewertung der vielgeschmĂ€hten Regulative herbeifĂŒhren zu wollen.

Trotz allem ist jedoch – pĂŒnktlich zur 150. Wiederkehr der Stiehl’schen Regulative – am 11. Juni 2004 in der Berliner Bibliothek fĂŒr Bildungsgeschichtliche Forschung eine Tagung ĂŒber „Die preußischen Regulative im Kontext der deutschen Bildungsgeschichte” veranstaltet worden, auf der eine bislang kaum fĂŒr möglich gehaltene Neudeutung der Regulative diskutiert wurde. Da die fĂŒr die Schriftfassung ĂŒberarbeiteten VortrĂ€ge dieser Tagung nun in einem Sammelband vorliegen, ist ab sofort auch ein grĂ¶ĂŸerer Leserkreis dazu eingeladen, ĂŒber Sinn oder Unsinn einer Neuinterpretation der preußischen Regulative nachzudenken und gegebenenfalls mit Kritik auf die verschiedenen Stellungnahmen der Tagungsteilnehmer zu antworten. Dass das Ansinnen, ĂŒber eine VerĂ€nderung von Deutungsmustern der Regulative auch nur diskutieren zu wollen, womöglich heftigen Widerspruch hervorrufen wĂŒrde, war den Tagungsteilnehmern jedenfalls von Anfang an bewusst. So erwĂ€hnt Heidemarie Kemnitz, die Herausgeberin des Bandes, im von ihr geschriebenen Vorwort ausdrĂŒcklich eine große „Verwunderung” (8), mit der sie bereits zu einem Zeitpunkt konfrontiert wurde, als Fachkollegen erstmals vom Projekt einer Neubewertung der Regulative erfuhren. Und Klaus-Peter Horn, einer der neun BeitrĂ€ger des Bandes, vermutet sogar, man werde jemanden, der sich heute noch zu den Stiehl’schen Regulativen Ă€ußert, wohl nur fĂŒr „verrĂŒckt oder mutig oder schlicht unwissend” (97) halten können.

Liest man jedoch die einzelnen Artikel des Bandes mit Sorgfalt und Interesse, wird schnell ersichtlich, dass die verschiedenen Autoren beim Verfassen ihrer BeitrĂ€ge weniger von (Über)mut, Wahn oder Unwissenheit angetrieben wurden, als vielmehr von einer ganz legitimen und gesunden intellektuellen Neugier. Dabei waren alle BeitrĂ€ger bestrebt, die Regulative einmal – auf Anregung von Kemnitz und ihrem Koeditor Christian Ritzi – aus „modernisierungstheoretisch[er]” (7) Perspektive zu lesen und zu deuten. Damit sollte nĂ€mlich, wie Kemnitz in ihrem Vorwort betont, eine von Frank-Michael Kuhlemann schon 1992 vorgetragene These ĂŒberprĂŒft werden, die besagt, dass bei nicht wenigen – zunĂ€chst ausschließlich reaktionĂ€r anmutenden – schulpolitischen Maßnahmen des 19. Jahrhunderts bei nĂ€herer Betrachtung eine verblĂŒffende Gleichzeitigkeit von „Disziplinierung” und „Modernisierung” festzustellen sei [4]. Immerhin, so Kemnitz, hĂ€tten ja auch die Regulative „als erste gesamtstaatliche Normierung von Volksschule und Lehrerbildung die Professionalisierung des Lehrerstandes vorangetrieben” (7f.). Waren also auch die preußischen Regulative des Jahres 1854 gar nicht so ausschließlich reaktionĂ€r wie bislang behauptet und spielten sie bei der Modernisierung des preußischen Schulwesens im 19. Jahrhundert am Ende eine nicht zu unterschĂ€tzende Rolle?

Bei der Beantwortung dieser Frage gelangen die neun Autoren des Bandes nun zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. So sieht die Herausgeberin Kemnitz in ihrem eigenen Artikel ĂŒber „Die Regulative im Kontext der 1848er Revolution” zwar einerseits ganz deutlich, dass die Stiehl’schen Anordnungen von 1854 die Volksbildung ohne jeden Zweifel auf ein traditionales und religiös fundiertes Konzept festschreiben wollten, mit ihrem definierten Bildungsminimum zudem „klare Zeichen einer Bildungsbegrenzung” (12) setzten und ĂŒberdies eine vielseitige, allgemeinere Bildung der Volksschullehrer untersagten. Diese Stoßrichtung der Regulative sei jedoch nicht allein als kurzfristige Reaktion auf die – von liberalen Lehrern nach KrĂ€ften unterstĂŒtzte – Revolution von 1848 zu deuten, sondern mĂŒsse vielmehr als Ergebnis einer schon seit 1819 entwickelten konservativen Schulpolitik verstanden werden. Überdies hĂ€tten die Regulative einen durchaus „ambivalent[en]” (24) Charakter, da Stiehl doch immerhin Tendenzen des Jahres 1848 aufgegriffen habe, indem er die im Kontext der Revolution von liberalen PĂ€dagogen geforderte Normierung der Lehrerbildung ja auf den Weg gebracht habe – „freilich”, wie Kemnitz einrĂ€umt, „in strikt konservativem Sinn” (17). Diese durch die Regulative bewirkte Standardisierung und Normierung des Lehrerberufs sei deshalb sogar als Vorform dessen zu bezeichnen, was ab 1872 „unter liberalem Zeichen” in der Ära des preußischen Kultusministers Adalbert Falk als „Modernisierung” gefeiert wurde (24).

Ganz anders als Kemnitz bewertet Gert Geißler die Regulative in seinem Beitrag „Ferdinand Stiehl und der preußische Weg der Elementarschule”. Geschult am Argumentationsgang Diesterwegs – des wohl geistreichsten zeitgenössischen Gegners der preußischen Regulative – widerspricht Geißler mit Nachdruck der These, dass die Stiehl’schen Anordnungen von 1854 in einem ernstzunehmenden Sinn modernisierend gewirkt hĂ€tten. Denn im Vergleich zu den fortschrittlichen Entwicklungen im Schulwesen der USA, DĂ€nemarks, Norwegens und Schwedens, wo Mitte des 19. Jahrhunderts emanzipatorische „Denk-, Sprech- und AnschauungsĂŒbungen” (48) in der Schule sowie eine umfassende Allgemeinbildung der Volks- und Elementarschullehrer eben nicht verpönt, sondern gefragt gewesen seien, mĂŒsse man die preußischen Regulative eher als „eine zeitweise Zuspitzung im langen Fluss einer politisch Ă€ngstlichen Volksschulpolitik” (50) verstehen.

Auch Sylvia SchĂŒtze zeigt in ihrem glĂ€nzend recherchierten Beitrag „Zur Kritik Adolph Diesterwegs an den Stiehl’schen Regulativen” auf, wie fortschrittshemmend die preußischen Regulative von 1854 allein schon der Form nach waren. So hebt sie hervor, dass die Regulative ein obrigkeitlicher Erlass waren, obschon – wie bereits Diesterweg anmerkte – die preußische Verfassung doch ausdrĂŒcklich vorsah, dass das öffentliche Unterrichtswesen durch ein von beiden Kammern des preußischen Parlamentes abgesegnetes Gesetz geregelt werden sollte. Nicht zuletzt deswegen habe Diesterweg gefordert, dass man die Regulative unbedingt ablehnen mĂŒsse, wenn man ein aufgeklĂ€rtes, zum Untersuchen und PrĂŒfen geneigtes Volk wolle, womit der liberale Schulmann, wie SchĂŒtze meint, zugleich â€žĂŒber die konservative Tendenz der Regulative ein eindeutiges Urteil” (69) gesprochen habe.

Klaus-Peter Horn nun wendet sich dem Erlass von 1854 in seinem Artikel ĂŒber „Das Theorie-Praxis-Problem in der Lehrerausbildung im Spiegel des Stiehl’schen Regulativs” weniger aus einem historischen, denn aus einem systematischen Interesse zu. In durchaus erfrischender Weise vergleicht er den Text der Stiehl’schen Regulative mit heutigen – und eo ipso modernen – Forderungen, in der Lehrerausbildung mehr praxisbezogene Anwendung als kritische Reflexion in den Mittelpunkt zu stellen, „um im Unterricht bestehen zu können” (106). Auf diese Weise entlarvt er in provokativer und sehr erhellender Weise, wie theoriefeindlich und – im Stiehl’schen Sinne – konservativ einige zunĂ€chst modern scheinende Forderungen der Lehrerausbildung eigentlich sind, weshalb er eindringlich dazu rĂ€t, PlĂ€ne einer praktischen Ausbildung, die zu Lasten einer wissenschaftlichen Ausbildung gehen wĂŒrden, „[nicht] mehr ernsthaft in Betracht [zu] ziehen” (108). Mit dieser Stellungnahme charakterisiert dann auch Horn die Regulative von 1854 als eine grundsĂ€tzlich rĂŒckwĂ€rtsgewandte Politik in Bezug auf die Lehrerbildung.

Marcelo Carusos Beitrag mit dem Titel „Faszination Stiehl” trĂ€gt im wesentlichen die eindringliche Warnung vor, dass die Historische Bildungsforschung sich nicht durch die nach wie vor großen „Polarisierungspotentiale” (111) der Regulative von einer grĂŒndlichen ÜberprĂŒfung der eigenen Thesen zur Schulgeschichte des 19. Jahrhunderts ablenken lassen soll. So zeigt er, dass Reinhard Stach in seinem Aufsatz zur „Geschichte der Schulversuche” die Auswirkungen der erst 1854 erlassenen Regulative in die 1840er Jahre vorverlegt hat, was fĂŒr Caruso ein besonders schönes „Beispiel fĂŒr die Kraft des Faszinosums Stiehl” (124) ist.

In ihren BeitrĂ€gen ĂŒber „Das bayerische Normativ zur Bildung der (Volks-) Schullehrer von 1857” und die kurhessischen „Provinzial-Schulordnungen von 1853” beleuchten Hans JĂŒrgen Apel und Sylvia Kesper-Biermann den Charakter der preußischen Regulative im Vergleich zu zwei anderen schulpolitischen Initiativen des Deutschen Bundes. Dabei kommen sie zu höchst aufschlussreichen Ergebnissen. Denn beide Autoren zeigen sehr deutlich, dass die Mitte der 1850er Jahre in Bayern und Kurhessen in Kraft getretenen restriktiven Regelungen zur Lehrerbildung eine eindeutige „Reaktion auf die politischen Demokratisierungs- und Emanzipationsbestrebungen des Lehrerstandes im Jahre 1848” (Apel, 140) waren und „eine grundlegende Neuordnung des Elementarschulwesens im Sinne einer konservativen Bildungstheorie” (Kesper-Biermann, 148) beabsichtigten. Zwar seien sowohl die bayerischen als auch die kurhessischen Maßnahmen unbeeinflusst von den preußischen Regulativen zustande gekommen, doch könne man die zahlreichen Parallelen zu den Stiehl’schen Anordnungen von 1854 nicht ĂŒbersehen. Im Umkehrschluss heißt dies doch wohl, dass die bayerischen, kurhessischen und preußischen Erlasse der 1850er Jahre des gleichen reaktionĂ€ren Zeitgeistes Kinder waren. Weil durch die Provinzial-Schulordnungen von 1853 aber auch in Kurhessen eine ‚Vereinheitlichung‘ und ‚Standardisierung‘ des Elementarschulwesens erfolgt sei, glaubt zumindest Kesper-Biermann in dieser „Ambivalenz staatlicher Schulpolitik der Reaktionszeit” einige „modernisierende ZĂŒge” erkennen zu können (160).

Abgeschlossen wird der Band mit zwei BeitrĂ€gen, die den Blick ĂŒber Deutschland hinaus nach Ungarn und Japan richten. AndrĂĄs NĂ©meth schildert in seinem Artikel ĂŒber „Die konservative Wende im ungarischen Bildungswesen nach 1848”, wie bei der im MĂ€rz 1855 erlassenen Verordnung zur Neugestaltung des Volksschulunterrichts und den 1856 verfĂŒgten Bestimmungen fĂŒr die katholischen Lehrerbildungsanstalten auch in Ungarn „auf Elemente zurĂŒckgegriffen wurde, wie sie die Preußischen Regulative charakterisierten” (175), womit Ungarn dem „gesamteuropĂ€ischen Muster der Epoche” (163) gefolgt sei. Die in der japanischen Bildungsgeschichtsschreibung wiederholt vertretene These, dass der reaktionĂ€re Geist der preußischen Regulative dann 1872 sogar durch die EinfĂŒhrung eines „Plans fĂŒr die Bildung des Volks (Gakusei)” (177) in Japan Schule gemacht hĂ€tte, wird in Toshiko Itos Reflexion ĂŒber den „Einfluss der Preußischen Regulative auf das japanische Bildungswesen” allerdings mit Nachdruck dementiert.

ResĂŒmierend lĂ€sst sich sagen, dass die BeitrĂ€ge des Bandes zwar – auf teilweise sehr hohem Niveau – die Kenntnisse zur Entstehungsgeschichte der Preußischen Regulative in vielen wichtigen Details erweitern und die Stiehl’schen Anordnungen von 1854 zudem auch – in wirklich erhellender Weise – in ihrem authentischen Kontext verorten, weshalb sie auch allesamt all denjenigen Fachkollegen zur LektĂŒre empfohlen werden, die sich mit der Schulgeschichte des 19. Jahrhunderts beschĂ€ftigen. Ob man die Regulative jedoch fortan, wie von Kemnitz und Kesper-Biermann vorgeschlagen, als einen zumindest ‚ambivalenten‘ Schritt auf dem Weg zur ‚Modernisierung‘ des Volksschulwesens begreifen sollte, bleibt angesichts der doch recht deutlichen Ergebnisse der meisten im Band enthaltenen AufsĂ€tze sehr fraglich und hochproblematisch. Denn die reaktionĂ€re Intention der Regulative wird in allen Artikeln nur zu deutlich erkennbar. Wer aber als PĂ€dagoge und Bildungsforscher, wie SchĂŒtze in ihrem Beitrag mahnt, „den Blick so bewusst von der intentionalen Seite abwendet, lĂ€uft Gefahr, die PĂ€dagogik zur Magd jedweder Macht zu degradieren” (90).

[1] Spranger, Eduard: Zur Entstehungsgeschichte der deutschen Volksschule. In: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Jahrgang 1944. Philosophisch-historische Klasse. Nr. 1. Berlin 1944, S. 30.
[2] Meyer, Folkert (1976): Schule der Untertanen. Lehrer und Politik in Preußen 1848-1900. Hamburg.
[3] Reble, Albert (1993): Geschichte der PĂ€dagogik. 17. durchg. u. ĂŒberarb. Aufl. Stuttgart, S. 273.
[4] Kuhlemann, Frank-Michael (1992): Modernisierung und Disziplinierung. Sozialgeschichte des Preußischen Volksschulwesens 1794-1872. Göttingen.
JĂŒrgen Overhoff (Hamburg/Potsdam)
Zur Zitierweise der Rezension:
JĂŒrgen Overhoff: Rezension von: Kemnitz, Heidemarie / Ritzi, Christian (Hg.): Die preußischen Regulative von 1854 im Kontext der deutschen Bildungsgeschichte. Baldmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2006), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89676984.html