EWR 5 (2006), Nr. 2 (März/April 2006)

Christian Hoch
Zur Bedeutung des "Pädagogischen Bezuges" von Herman Nohl für die Identitätsbildung von Jugendlichen in der Postmoderne
Eine erziehungsphilosophische Reflexion
Würzburg: Ergon 2006
(196 S.; ISBN 3-89913-429-x; 29,00 EUR)
Zur Bedeutung des "Pädagogischen Bezuges" von Herman Nohl für die Identitätsbildung von Jugendlichen in der Postmoderne In jüngeren Besprechungen von Arbeiten über Nohls Theorem des Pädagogischen Bezugs liest man stets – wenn nicht als sentimentale Klage, dann als nüchterne Feststellung –, dass die geisteswissenschaftliche Pädagogik des Jenenser und Göttinger Professors zunehmend in Vergessenheit geraten sei. Eine Ursache dafür ist der disziplinäre Übergang innerhalb der Pädagogik hin zur Erziehungswissenschaft seit den 1960er Jahren, ob realistisch, emanzipatorisch oder szientistisch proklamiert. Im Zuge des kritischen Rationalismus und der „Versozialwissenschaftlichung“ sah sich die erzieherische Relationskonzeption zwischen Educator/Educandus resp. Lehrer/Schüler als Bildungsgemeinschaft massiven Anwürfen ausgesetzt. Die Bedenken richteten sich im Wesentlichen gegen die isolationistische Tendenz dieses vermeintlich imaginären Szenarios (Klafki), die simplifizierende, mangelnde Berücksichtigung sozialisatorischer Faktoren (Brezinka) sowie seine patriarchalisch-autoritäre Strukturiertheit (Mollenhauer, Gamm). Erst Dorle Klika (2000) und Damian Miller (2002) heben den Pädagogischen Bezug wieder auf ein monographisches Tableau und bringen ihn erneut ins Gespräch.

Obwohl sich das Sujet also nicht gerade großer publizistischer Beliebtheit erfreut, „wagt“ Christian Hoch in seiner Dissertation die Auseinandersetzung damit. Mehr noch, er kombiniert es sehr bewusst mit zwei weiteren Begriffen, die aktuell ebenfalls strittig erscheinen: Identität(sbildung) und Postmoderne. Seine desiderable Fragestellung lautet beschränkt auf die Phase der Adoleszenz, „inwieweit das erzieherische Verhältnis, das Verhältnis ‚eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen’, (...) im Sinne Herman Nohls, auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen identitätsbildende Wirkung besitzt“ (11f. u. 125). Ihr nähert er sich hermeneutisch-problemgeschichtlich, aber auch unter Heranziehung empirischer Forschungsergebnisse in der Tradition Wilhelm Flitners.

Originell und vordergründig Widerspruch herausfordernd zugleich ist der Einfall, die theoretischen Erörterungen am Beispiel eines 15-jährigen Jugendlichen namens Raymond weniger abstrakt wirken zu lassen. Bei Letzterem handelt es sich um einen anonymisierten „Fall“ aus der psychotherapeutischen Praxis des Verfassers. Auf ihn und seine Lebensumstände kommt Hoch mehrmals zurück, um seine Ausführungen abzugleichen (23f, 31f, 44, 48f, 53 u. 96). Der Verdacht, es handle sich möglicherweise um ein biographisches Phantasiekonstrukt, welches die Untersuchungsergebnisse hinterrücks bestätigen soll, wird durch die Leugnung jeglicher empirischer Relevanz, Repräsentativität oder Exemplarität von vorneherein zerstoben (14). Von der Einholung der komplexen Bedingungen des heutigen Heranwachsens in einen konkreten, adoleszenten Lebensentwurf profitiert der Leser dann auch in der Tat.

Hochs Promotionsschrift lässt sich im Grunde zweiteilen: Die Kapitel 1-4 leisten hinführende Vorarbeit und münden schließlich in den Entwurf eines pädagogischen Konzepts der Identitätsbildung (109 u. 166). Welcher theoretische Ansatz ihm eher gerecht wird, ob der postmoderne Meders oder der reformpädagogische Nohls, ist Gegenstand der Kapitel 5-7. Wie die Entscheidung ausfällt, dürfte dem aufmerksamen Beobachter bereits klar sein, warum der Autor sie so trifft, soll im Folgenden kurz wiedergegeben werden:

Er beginnt in Ermangelung eines genuin pädagogischen Identitätsbegriffs mit der entwicklungspsychologischen Theorie der Ich-Identität Eriksons, die auch der postmodernen Debatte noch Folie ist und spätere bildungstheoretische Verknüpfungen innerhalb der Arbeit vorbereiten soll. Hochs zu Grunde gelegte Definition von Identität, philosophisch im Spannungsfeld zwischen Identität und Differenz angesiedelt, sieht sie als „Phänomen des inneren Erlebens der Heranwachsenden (...), d.h. als subjektive Identitätserfahrung“ (16). Das auf Stabilität ausgerichtete Konzept von Erikson scheint nun aufgrund der veränderten Bedingungen des Heranwachsens Jugendlicher seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts überholt und unrealistisch zu sein. Wie soziologische Befunde, hier vor allem Becks Individualisierungsthese, belegen, kommt es zu einer „Entstrukturierung der Jugendphase“ (33 u. 46ff), die zwar einerseits größere Chancen hinsichtlich der autonomen, optionalen Selbstverwirklichung eröffnet, andererseits aber auch gestiegene Risiken bezüglich der Identitätssicherheit aufnötigt. Der entscheidende Aspekt für Hoch ist an dieser Stelle, ob der Individualisierungsprozess mehr Richtung Souveränität oder Überforderung steuert, ob sich die konstatierte Pluralisierung der Adoleszenz bzw. Differenzierung der Gesellschaft also positiv oder negativ auf Identitätsbildung auswirkt. Die Ergebnisse der pädagogischen Jugendforschung bestätigen jene Ambivalenzen in Familie, Jugendkulturen und Schule. Postmoderne Subjektivität, verstanden als „Fähigkeit zur Selbstinszenierung und -darstellung“ (53), repräsentiere daher unterschwellig häufig „die Krise des autonom-individuierten Selbst“ (52). Das identitätsstiftende, kohärente und kontinuierliche Empfinden, selbst Herr seines Handelns und seiner Entscheidungen zu sein, geht über Individualität hinaus und darf nicht mit ihr synonymisiert werden. Dennoch, so Hoch, könne vor dem Hintergrund der postmodernen Kritik am Subjektbegriff und der einen Vernunft nicht mehr bedenkenlos von einer monolithischen, überwiegend statischen Identität und einem souveränen Subjekt ausgegangen werden. Eriksons Identitätstheorie bedarf dementsprechend der zeitgemäßen Modifikation, die postmodernen Beanstandungen, er denke Identitätsbildung nicht lebenslang resp. ohne Brüche, verfehlen jedoch ihr Ziel (70ff). Auch beschreibt der Verfasser die von Welsch, Schimank, Bilden und Keupp genannten Fähigkeiten zur Lebensbewältigung in unserer hochdifferenzierten Gesellschaft als nicht hinreichend, ein Gefühl von Eigenständigkeit und Selbstverantwortung zu entwickeln. Dazu braucht das Individuum – wiederum nach Erikson – die stabile Kern-Identität, welche auf dem Erleben von Gleichgewicht und Kontinuität in der Zeit, der Anerkennung durch bedeutsame Andere sowie der Aneignung einer Ideologie beruhe.

Die Synthese von Eriksons Grundannahmen und ihrer postmodernen Weiterentwicklung sieht Hoch in Mollenhauers Identitätsverständnis als Bildungsprozess, dem Unterschied zwischen Aktualität und Potentialität, verwirklicht. Das bedeutet für ein pädagogisches Konzept der Identitätsbildung, so resümiert Hoch, dass es a) die gegebene Pluralität berücksichtigen und an ihr ansetzen b) Bildungsbewegungen als Möglichkeit der Identitätsbildung initiieren c) Funktionen bedeutsamer Anderer einbeziehen und d) durch das Fehlen allgemeiner Sinnfundamente entstandene Probleme der Zielformulierung pädagogischer Vermittlung und der Auswahl der Bildungsinhalte präsent haben muss. Das postmoderne Bildungsverständnis, illustriert am idealisierten Sprachspieler Meders, wird diesen Anforderungen nicht gerecht (111ff). Und genau hier kommt der Pädagogische Bezug Herman Nohls ins Spiel, den Hoch für „anschlussfähig an das (...) formulierte Verständnis von Identität als Kernidentität, die Pluralität im Sinne von diachroner und synchroner Differenzerfahrung zur Voraussetzung hat“ (165), hält. Nachdem der Autor bei der inhaltlichen Explikation gewissermaßen nebenbei noch die eingangs erwähnte Kritik an Nohl widerlegt, gelangt er zu der Auffassung, die Konzeption des Pädagogischen Bezugs könne im Sinne eines identitätsbildenden Bildungsprozesses mit dem Ziel der Einheit der Person verstanden werden. Ja, er erfülle die Anforderungen der Identitätsbildung in der Postmoderne (166ff).

Methodisch innovativ denkende Bildungshistoriker, die sich der neuen Ideengeschichte verschrieben haben, werden zunächst zusammenzucken und dafür plädieren, Nohls Theorem des Pädagogischen Bezugs dort zu lassen, wo es hingehört – in einen bestimmten geistesgeschichtlichen Kontext der Vergangenheit. Die Leichtigkeit, mit der es daraus gelöst wird, um in virtueller Zeitgenossenschaft Antworten auf gegenwärtige Fragen zu geben, könnte vorgeworfen werden. Als bedenkenswerte Anregung für die „pädagogische Diskussion um die Identitätsbildung von Jugendlichen in der Postmoderne“ (176) unter Beachtung der historischen Distanz kann Nohls „antiquiertes“ Theorem freilich herangezogen werden. Nichts anderes will der Autor, weswegen seine Studie all jenen ans Herz gelegt sei, die sich in einer solchen Debatte engagieren.
Andreas Ledl (Flensburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Ledl: Rezension von: Hoch, Christian: Zur Bedeutung des "Pädagogischen Bezuges" von Herman Nohl für die Identitätsbildung von Jugendlichen in der Postmoderne, Eine erziehungsphilosophische Reflexion. Würzburg: Ergon 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 2 (Veröffentlicht am 04.04.2006), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89913429.html