
In der Auswahl der Beiträge (z. B. Hochschulbildung, Psychologie oder Personal- und Organisationsentwicklung) sowie durch die verschiedenen theoretischen und disziplinären Hintergründe der 103 Autor:innen aus dem Globalen Süden sowie Norden wird eine breite thematische Vielfalt zum Phänomen des transformativen Lernens deutlich. Dieser multidisziplinäre Zugang bietet die Möglichkeit, das Phänomen der Transformation different zu erforschen und dabei auch Disziplinen miteinander zu verbinden.
Die Entscheidung für den Titel ‚Learning for Transformation‘ anstelle des zu erwartenden Titels ‚Transformative Learning‘ – immerhin wird dieses Konzept über tausendmal im Handbuch wörtlich erwähnt – wird gleich im Vorwort aufgegriffen. Die Untersuchung des ‚Phänomens der Transformation’ unterstreiche den inhärenten Charakter eines ‚passageway‘ (dt. Durchgang, Passage), nämlich die Erforschung noch unbekannter Gebiete. Diese Metapher beschreibt den nicht immer einfachen Prozess des Durchdringens eines ‚Grenzraums‘ (vi). Die Herausgeber:innen laden die Leserschaft demnach ein, sich auf eine Reise der Transformation zu begeben, um alte Sichtweisen aufzubrechen, Grenzen zu überschreiten, mit dem Ziel neue Räume zu erschließen. In einem weiteren Vorwort zieht Ahreum Lim, eine Wissenschaftlerin, die zum Phänomen promoviert, ebenfalls einen metaphorischen Vergleich: transformatives Lernen sei ein großer Swimmingpool. Mit dieser Analogie beschreibt Lim gleichzeitig ihre Erfahrungen der Zusammenarbeit mit den Autor:innen sowie das Handbuch selbst.
Gegliedert ist das Handbuch anhand folgender vier Herausforderungen, welche zugleich die Kapitelstruktur bilden: „The Many Turns of Transformation“ (I), „Generating Conditions for Transformation“ (II), „(Un)known Discourses of Transformation“ (III) und „Challenges and Emerging Future of Transformation“ (IV). Jedes der vier Kapitel beinhaltet zwischen zwölf und 13 Beiträge.
Die Reise beginnt zunächst auf sicherem Terrain: Ausgehend von den humanistischen, konstruktivistischen und kritisch sozialtheoretischen Wurzeln des transformativen Lernens werden in den Beiträgen im ersten Kapitel multidisziplinäre und transdisziplinäre Perspektiven auf das transformative Lernen vorgestellt.
Im zweiten Kapitel werden die Bedingungen beleuchtet, die Transformationen begünstigen. Die Leser:innen lernen in den Beiträgen die verschiedenen ‚Schwimmstile‘ kennen und zwar in Form unterschiedlicher (theoretischer) Herangehensweisen, die Transformationsprozesse unterstützen können. Das traditionelle Verständnis des transformativen Lernens mit Fokus auf die individuelle Entwicklung wird verlassen und der Weg für Theorien mit Blick auf kollektive oder gesellschaftliche Transformation wird geebnet.
Im dritten Kapitel werden die Leser:innen durch „(Un)known Discourses of Transformation“ (482), wie z. B. Informelles Lernen, Postkoloniale Unterdrückung oder Indigene Weltanschauungen, in den Beiträgen angeregt, ihre Vorstellungen zum transformativen Lernen zu überdenken.
Im vierten und letzten Kapitel wird klar: Es braucht, auch um der Redundanz entgegenzuwirken, eine neue Sprache, um das Phänomen der Transformation zu beleuchten. Bisher folgte aus dem ‚brüchigen Zustand unserer Sprache‘ eine ‚Zersplitterung des Fortschritts der Theorieentwicklung‘ (15). Ahreum Lim ermutigt die Leserschaft sich darauf einzulassen, ‚gegen den Strom zu schwimmen‘ und darin Freude zu empfinden (xvii).
Anstelle einer ausführlichen Diskussion einiger ausgewählter Beiträge, die den Leistungen der Autor:innen nicht gerecht werden kann, wird der bunte Strauß an Perspektiven mithilfe von exemplarischen Zugängen und Fragestellungen skizziert. Nicht unerwartet scheint die Theorie Jack Mezirows in einigen Beiträgen durch, explizit setzen sich drei Beiträge (Beitrag 2 von Fleming; Beitrag 3 von Eschenbacher & Levine sowie Beitrag 4 von Finnegan) mit den klassischen Wurzeln des transformativen Lernens auseinander. Erweitert wird diese Perspektive durch theoretische Zugänge, wie z. B. die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) (Beitrag 10 von Melacarne & Fabbri). In diesem Beitrag wird Aufschluss über die Entwicklung von Forschungspraktiken gegeben, die von der Theorie des transformativen Lernens und der ANT inspiriert sind, transformatives Lernen als ‚soziales Handeln‘ und nicht als individuellen Prozess zu verstehen (176). Der Beitrag zur Aktionsforschung (Beitrag 11 von Bradbury) stützt sich auf konstruktivistische Theorien und geht der Frage nach, wie ‚Resilienz für Konflikttransformation‘ aufgebaut werden kann (195).
Während Elizabeth Tisdell und Ann Swartz sowie Janet Ferguson und Massimo Lambert über die Themen ‚Pilgern‘ und ‚soul work‘ individuelle Transformation und persönliches Engagement in den Blick nehmen (Beitrag 12 und 13), widmen sich Carey Newman und Catherine Etmanski der Frage, wie eine individuelle Reise eine kollektive Transformation in Gang setzt (Beitrag 28). Der Fokus auf kollektive Zusammenhänge kommt in mehreren Beiträgen zu sozialem Wandel zum Ausdruck (Beitrag 42 von Olesen; Beitrag 43 von Caramellino et al.; Beitrag 44 von Chaplowe et al. und Beitrag 45 von Buergelt & Paton).
Die Frage, wie transformatives Lernen soziale Gerechtigkeit beeinflusst, wird von Mitsunori Misawa bearbeitet (Beitrag 32), der zur Untersuchung einer Anti-Mobbing-Praxis insbesondere ‚nicht-westliche Wissensformen‘ (573) heranzieht. Damit zeichnet sich auch das weite Spannungsfeld zwischen Individuum und Kollektiv ab.
Hinsichtlich der Handlungsfelder lässt sich ein breites Feld abstecken: von einem allgemeinen Arbeitskontext, wie z. B. Lehrer:innenausbildung (Beitrag 17 von Mälkki et al.) und Arbeitsplatz (Beitrag 18 von Fisher-Yoshida; Beitrag 19 von Kwon; Beitrag 20 von Cox et al. und Beitrag 21 von Ramparsad), über Kunst und Kreativität als Mittel zur Transformation (Beitrag 7 von Romano et al.; Beitrag 35 von Johns und Beitrag 36 von Lawrence) sowie der Rolle von Emotionen und Körper-Gehirn beim transformativen Lernen (Beitrag 40 von Taylor & Marienau) bis hin zum Bildungskontext. In letzterem nehmen die Beiträge über und mit indigenen Perspektiven einen zentralen Platz ein: Roz Walker und Rob McPhee thematisieren am Beispiel Australiens die Umgestaltung des indigenen Bildungswesens (Beitrag 15), das sowohl die Bildungsergebnisse der indigenen Bevölkerung als auch deren Leben verbessern soll. Maren Seehawer und Kolleg:innen greifen auf das südafrikanische Paradigma von Ubuntu (eine Lebensphilosophie, die mit ‚Menschlichkeit‘ übersetzt werden kann) als Rahmen für ihr Transformationsverständnis zurück (Beitrag 26) und nähern sich mithilfe partizipativer Aktionsforschung einer Veränderung der pädagogischen Praxis. An der Ostküste Kanadas untersucht David Newhouse mit seinen Kolleg:innen die Bedeutung einer indigenen Pädagogik im Ausbildungskontext (Beitrag 27). Dem postkolonialen Kontext Südafrikas widmen sich drei Beiträge mittels geschichtlicher und literarischer Zugänge (Beitrag 29 von Keane et al.; Beitrag 30 von Muthayan und Beitrag 31 von Ashcroft).
Ebenso prominent wird das Thema ‚sustainability education‘ behandelt. Dabei spielen folgende Aspekte eine Rolle: „transformative sustainability education (TSE)“ (130) und das transformative Lernpotenzial bei Pädagog:innen, die systemische und nachhaltige Veränderungen bewirken (Beitrag 8 von Burns et al.), die Unterstützung von „reorienting connections via ecological practices“ (279) (Beitrag 16 von Hathaway) sowie die Bildung eines ökologischen Bewusstseins nach der Förderung von Praktiken des transformativen Lernens (Beitrag 46 von Schlattner; Beitrag 47 von West und Beitrag 48 von Le Hunte et al.).
Besonders hervorgehoben werden soll abschließend der Schlussbeitrag von Yabome Gilpin-Jackson und Marguerite Welch (Beitrag 51), welcher weit über eine Zusammenfassung hinausgeht. Er bietet eine kritische Reflexion über transformatives Lernen als lebendige Theorie und überzeugt mit seiner inhaltlichen Dichte sowie seiner bildlichen Sprache. Angemerkt werden kann, dass sich die darin enthaltene Kapitelzusammenfassung (921-935) für die Gesamtausgabe als Orientierungshilfe besser für die Einleitung geeignet hätte.
Eine Stärke des Handbuches ist sein persönlicher Stil mit individuellen Erfahrungen und Reflexionen der Autor:innen. Diese individuelle Adressierung der Leser:innen durch tiefgreifende und umfassende Fragen, die zum Nachdenken anregen, zieht sich durch die gesamten Beiträge und lässt die Autor:innen nahbar werden. Die Herausgeber:innen laden dazu ein, den vertrauten Wissensraum zum transformativen Lernen zu verlassen und sich neuen Ansätzen zuzuwenden. So werden die Leser:innen im Abschlussbeitrag aufgefordert, die thesenartigen Vorschläge – 1. „Transformation-in-Context“, 2. „Transformation-in-Connection“, 3. „Transformation-in-Action“, 4. „In-Transformation“ – selbst zu erforschen und damit das eigene Vokabular des Phänomens der Transformation zu erweitern und zu verändern (937).
Insgesamt ist das Handbuch von gesellschaftlicher Aktualität gezeichnet. Es eignet sich sowohl als Einstiegswerk in die Thematik als auch für diejenigen Wissenschaftler:innen, die sich bereits intensiv mit Theorien des transformativen Lernens auseinandergesetzt haben. Vor dem Hintergrund der eingangs genannten Krisen und Dilemmata wird das ‚Phänomen transformatives Lernen‘ mithilfe verschiedener (lern-)theoretischer Konzepte als Lernprozesse umfassend untersucht. Durch die Bearbeitung der übergeordneten Frage nach der Gestaltung von ‚Learning for Transformation‘ anhand der von den Herausgeber:innen vorgegebenen vier Herausforderungen gewinnt das Handbuch an struktureller Klarheit und Transparenz.
Im Vergleich zu dem im Jahr 2012 erschienenen ‚Handbook of Transformative Learning‘, herausgegeben von Edward W. Taylor und Patricia Cranton, welches als Überblick über Theorieentwicklung, Forschung und Praxis im Bereich des transformativen Lernens dient, stellt das vorliegende Handbuch eine Neuausrichtung des Feldes der Transformation dar. Das Ziel der Herausgeber:innen, eine komplexe und multidisziplinäre Untersuchung des Transformationsphänomens anzuregen und die Grenzen zwischen Theorie und Praxis aufzulösen, wird damit erfüllt.