EWR 24 (2025), Nr. 2 (April)

Maria Cristina Gatti / Jeanette Hoffmann (Hrsg.)
Storytelling as a Cultural Practice
Pedagogical and Linguistic Perspectives
Lausanne: Peter Lang 2024
(390 S.; ISBN 978-3-0343-4505-7; 74,95 EUR)
Storytelling as a Cultural Practice Erzählen ist eine kulturelle Praxis, für die sich nicht nur Literaturwissenschaftler:innen und Schriftsteller:innen interessieren. Das zeigt der von Maria Cristina Gatti und Jeanette Hoffmann herausgegebene, rund 400 Seiten umfassende Band mit dem Titel „Storytelling as a Cultural Practice“ eindrücklich. Die beiden Herausgeberinnen sind an der Universität Bozen-Bolzano in Italien (Südtirol) tätig: Gatti ist Professorin für Englische Linguistik, Hoffmann Professorin für Deutsche Literaturdidaktik. Die insgesamt 17 Beiträge, die sie in dem sorgfältig editierten Buch versammeln, stammen aus verschiedenen Disziplinen. Sie geben Einblick in Forschungen zum Geschichtenerzählen aus der (angewandten) Sprachwissenschaft, der Erst-/Zweitsprach- und Literaturdidaktik, der Grundschulpädagogik sowie aus spezialisierten Wissenschaftsdiskursen wie der Medizin. Alle Artikel sind auf Englisch verfasst, womit eine internationale Rezeption anvisiert ist. Jedem Beitrag sind nebst einem englischen Abstract mit Keywords eine kurze Zusammenfassung mit Schlagwörtern auf Deutsch oder Italienisch vorangestellt. Dies erhöht nicht nur die Lesefreundlichkeit für deutsch- oder italienischsprachige Leser:innen, die Englisch lediglich als Fremd- und Wissenschaftssprache beherrschen; es erleichtert auch die Entscheidung, welche der Beiträge sich aufgrund des eigenen Interesses am Forschungsgegenstand vorrangig zu lesen anbieten.

Die Vorstellung, beim Storytelling ginge es vor allem um Schreiben und Rezipieren von fiktional-ästhetischen Texten, ist eindeutig zu eng – worauf allein schon der Untertitel des Sammelbandes, „Pedagogical and Linguistic Perspectives“, aufmerksam macht. Beteiligt an der forschenden Rundumschau auf Geschichtenerzählen sind Wissenschaftler:innen von Universitäten, Fachhochschulen und anderen Institutionen mehrerer Länder: Italien (Bozen, Brescia, Kalabrien, Mailand, Rom, Udine), Deutschland (Berlin, Dresden, Koblenz, Wuppertal), Schweiz (Lugano, Zürich), Niederlande (Tilburg) und USA (Minnesota). Das erklärte Ziel der Aufsatzsammlung ist es, Lernpotenziale, die sich in der kulturellen Praktik des Erzählens eröffnen, theoretisch und empirisch jenseits der aktuellen Kompetenzorientierung auszuloten: „Against the background of an educational landscape that is currently competence-oriented, the question arises as to what role the art of storytelling plays in educational contexts, and what possibilities it opens up for learning. This edited volume aims to address this question, theoretically and empirically, from pedagogical and linguistic perspectives.“ (17)

Nebst der Bedeutsamkeit, die Storytelling in Erziehungs- und Bildungskontexten entfalten kann, kommt durch die interdisziplinäre Zusammenstellung auch der Impact in den Fokus, den Storytelling auch in anderen sozialen Zusammenhängen haben kann (z.B. Erzählungen in Medizin oder Ökonomie). Die jeweiligen Erkenntnisinteressen und Forschungsergebnisse der verschiedenen Disziplinen werden durch die vorgenommene Gruppierung der Beiträge in einen produktiven Dialog für ganzheitlicheres Verstehen gesetzt: „Our interdisciplinary approach seamlessly integrates pedagogical and linguistic perspectives, presented within shared chapters exploring similar research topics. This integration aims to foster a holistic understanding, drawing from a diverse range of viewpoints and insights that enrich the dialogue between specialized discourses. Through meaningful exchanges, our interdisciplinary framework facilitates productive discussions, not only deepening understanding but also offering fresh perspectives to each field of inquiry.“ (22)

Erzählungen von Kindern sowie von Erwachsenen, welche die Erzählaktivität von Kindern begleiten, werden im Feld des fiktional-ästhetischen „Storytelling“ unter die Lupe genommen. Dort sind es kinderliterarische Gegenstände der multimodalen Art wie das Bilderbuch, deren Ästhetik, Rezeption und Anregungspotenzial für eigenes Geschichtenerzählen und sprachliches Lernen untersucht werden. Insbesondere die fünf Beiträge, die im zweiten Abschnitt unter der Überschrift „Storytelling with, and in, picturebooks“ versammelt sind, widmen sich diesem Forschungsgegenstand: Storytelling with Picturebooks in Multilingual Contexts of South Tyrol (IMAGO)“ von Jeanette Hoffmann, „Wordless Picturebooks, Narrative Scaffolding and the Acquisition of Narrative Skills: A Usage-Based Approach to How Children Construct a Story“ von Benjamin Uhl, „Telling TALES about Nature in English L2: Selecting and Performing Picturebooks for Children“ von Elisa Bertoldi, „Multimodal Storytelling in Panel Readings“ von Caroline Wittig und „Creating Stories Within Stories: Typewriters in Contemporary Picturebooks“ von Katharina Egerer.

Geschichten werden jedoch über das ganze Leben hinweg erzählt – und so lautet die Überschrift, welche um die drei ersten Beiträge des Bandes eine inhaltliche Klammer setzt, denn auch passend „Storytelling throughout the course of life, and within different social and media contexts“. Wer sich als Wissenschaftler:in im deutschsprachigen pädagogisch-didaktischen Diskurs bewegt, ist wenig überrascht, hier zum Auftakt des Bandes einen dichten und an grundlegende Fachliteratur des Sprach- und Literaturerwerbs anknüpfenden Beitrag von Petra Wieler vorzufinden. Unter dem Titel „Children’s Own Stories as Representations of the Self and Their Views of the World“ nimmt Wieler darin die (früh-)kindliche sprachlich-literarische Enkulturation in den Blick. Der anschließende Beitrag von Daniel Perrin und Marlies Whitehouse richtet den Blick auf dem Forschungsfeld der „literacy“ sodann auf „financial literacy“. Perrin und Whitehouse untersuchen aus der Perspektive der angewandten Linguistik Ko-Narrative rund um Anlageberatung, Anlageverhalten und finanzielle Bildung. Sie präsentieren damit eine transdisziplinäre Analyse einer wichtigen Quelle des Geschichtenerzählens im öffentlichen Diskurs: die Empfehlungen von Finanzanalysten für Investoren. Der anschließende Beitrag von Sjaak Kroon und Massimiliano Spotti beschreibt emblematische Beispiele analoger und digitaler Narrationen, die von Kolonialismus, Migration und Flucht handeln und von Globalisierung, Digitalisierung und Diversität erzählen. Ihre semiotisch ausgerichtete Untersuchung zu „New Narratives in the Online-Offline Nexus“ widmet sich u.a. mit Alan Kurdi, einem ertrunkenen syrischen Flüchtlingskind, einer ikonischen Schlüsselfigur im politischen und künstlerischen Erzählen, mit Potenzial für Bewusstseins- und Persönlichkeitsbildung in Bildungskontexten.

Der dritte Abschnitt versammelt drei Beiträge zu „Storytelling in children’s and young adults’ drawings, writings and readings“: „Narratives as Compositions of Pictorial and Linguistic Elements“ von Iris Nentwig-Gesemann, „Between Imagination, Convention and Corporeality – Written Storytelling as an Aesthetic Learning Process“ von Franziska Herrmann und „The Space Between: A Posthuman Approach to Reader’s Response“ von Kirsten Hunt.

Abschnitt vier widmet sich mit drei Aufsätzen dem „Storytelling in English language teaching and teacher education“: „Interactional and Cognitive Aspects of Storytelling in English Language Acquisition“ von Emilia Petrocelli und Sergio Pizziconi, „Oral Storytelling Pedagogies in Teaching English to Young Learners: Implications for English Language Teacher Education“ von Valentina Gobbett Bamber und „Storytelling, a Pedagogical Device in Higher Education“ von Raffaella Leproni und Barbara De Angelis.

Die letzten drei Kapitel in Abschnitt fünf schließlich untersuchen „Storytelling in specialised discourse“. Im Zentrum des Beitrags von Annalisa Zanola mit dem Titel „Once Upon a Time in Science: Storytelling and the Narrative Spectrum“ steht hier die Analyse wissenschaftlicher Texte, die sich in den ersten Monaten der Covid-19-Pandemie mit Erklärungen und Verhaltensempfehlungen an die nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit richteten. Im Aufsatz von Kim und Susanna Grego geht es um „Narrative Medicine and Medical Narratives: Marfan Syndrome between Definition, Description and Narration“ und in demjenigen von Martina Irsara um „Paths in Jonathan Livingston Seagull: A Contrastive Analysis of Phrasal Patterns in English, Italian and Ladin“.

Insgesamt präsentiert der Band eine reichhaltige Zusammenschau pädagogisch und linguistisch induzierter Forschungsaktivitäten zum Geschichtenerzählen als kulturelle Praxis. Dem in der Einleitung formulierten Ziel, im Rahmen eines interdisziplinären Austausches das Verständnis für andere Forschungsperspektiven auf Storytelling zu vertiefen und damit auch bei den Leser:innen des Bandes produktive Diskussionen anzustoßen, wird er sehr wohl gerecht. Der Blick über den eigenen disziplinär begrenzten Tellerrand hinaus entdeckt hier viel im Angebot, das zu lesen lohnt.
Gabriela Scherer (Landau)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gabriela Scherer: Rezension von: Gatti, Maria Cristina / Hoffmann, Jeanette (Hg.): Storytelling as a Cultural Practice, Pedagogical and Linguistic Perspectives. Lausanne: Peter Lang 2024. In: EWR 24 (2025), Nr. 2 (Veröffentlicht am 29.04.2025), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978303434505.html