EWR 24 (2025), Nr. 2 (April)

Sarina Hoff
Der lange Abschied von der PrĂŒgelstrafe
Körperliche Schulstrafen im Wertewandel 1870–1980
Berlin/ Boston: de Gruyter Oldenbourg 2023
(494 S.; ISBN 978-3-11-062761-9; 79,95 EUR)
Der lange Abschied von der PrĂŒgelstrafe Sarina Hoff befasst sich in ihrer vom Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-UniversitĂ€t Mainz 2020 angenommenen Dissertation mit der Fragestellung, warum sich körperliche Strafen trotz kritischer Diskurse ĂŒber deren gewaltsame sowie entwĂŒrdigende Effekte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in den Schulen behaupten konnten. Hoff verortet ihre Arbeit an der Schnittstelle von „Bildungs- und Gewaltgeschichte“ (15) und operationalisiert ihre Untersuchung bezugnehmend auf AnsĂ€tze der „Mainzer historischen Wertewandelsforschung“, insbesondere auf das Konzept des „Wertewandeldreiecks“ (17). Im Anschluss an die Überlegungen der Historiker Andreas Rödder, Bernhard Dietz und Christopher Neumeier geht sie der These nach, „dass sich Werte nicht etwa als lineare Folge sozialstrukturellen Wandels verĂ€ndern, sondern dass diskursiv verhandelte Werte, soziale Praktiken und institutionelle Rahmenbedingungen [
] sich gegenseitig beeinflussen, sodass sich ein dreiecksförmiges GefĂŒge von Wechselwirkungen ergibt“ (17). Bezogen auf ihre Fragestellung interessiert sie konkret, „welche verĂ€nderten Werthaltungen“ zur Revision der Ansichten ĂŒber die Körperstrafe als Erziehungsmittel beitrugen (16).

FĂŒr die Rekonstruktion der „Mechanismen des Wandels“ sei es notwendig, so Hoff, „erstens die Debatten, zweitens die Gesetze, Erlasse und strafrechtlichen Bewertungen, die den institutionellen Rahmen des ZĂŒchtigungsrechts festlegten, sowie drittens die soziale Praxis“ zu berĂŒcksichtigen und deren wechselseitige Beeinflussung zu betrachten (18). Angesichts des vergleichsweise langen Untersuchungszeitraums grenzt sie ihren Gegenstandsbereich ein, indem sie sich ausschließlich auf Körperstrafen in der Schule konzentriert und andere Strafformen sowie körperliche Strafen in der Heimerziehung und in der Familie im Wesentlichen ausklammert.

Um die Auseinandersetzung ĂŒber die körperliche Strafe in ihrer Breite erforschen zu können, legt Hoff ihrer Studie ein vielschichtiges Quellenkorpus zugrunde, fĂŒr dessen Zusammenstellung sie sich an den drei Polen des „Wertewandeldreiecks“ orientiert. Zur Erfassung der „Debatten“ (23), auf der ersten Ebene, bezieht sie wissenschaftliche Publikationen aus PĂ€dagogik, Psychologie und Rechtswissenschaft in Lexika, Lehr- und HandbĂŒchern sowie Fachzeitschriften ein. Bei der Rechtswissenschaft kommen Dissertationen, Gesetzeskommentare und Entscheidungssammlungen der Rechtsprechung hinzu. Die „fachlich-praxisbezogenen Diskussionen“ der LehrkrĂ€fte (23) finden durch die Aufnahme der BeitrĂ€ge einschlĂ€giger Zeitschriften, der Vereinspresse sowie interner archivalisch ĂŒberlieferter Unterlagen von Vereinen und VerbĂ€nden Eingang in das Korpus. Über Presseartikel sowie SachbĂŒcher wird zudem die gesamtgesellschaftliche Diskussion abgebildet.

Auf der zweiten Ebene, den institutionellen und bildungspolitischen Rahmenbedingungen, geht es um Gesetze und Verordnungen, deren Genese anhand von Parlamentsprotokollen und Akten der Kultusadministration rekonstruiert wird. Angesichts unzureichender Überlieferungen gestaltete sich der Zugang zur dritten Ebene, der „sozialen Praxis“, am schwierigsten. Hoff greift hier auf „aktenkundige Untersuchungen“ zurĂŒck, die im Rahmen von Straf- und Disziplinarverfahren wegen VerstĂ¶ĂŸen gegen das ZĂŒchtigungsrecht durchgefĂŒhrt worden sind (25). Methodisch rekurriert sie auf „hermeneutische Verfahren“ (17), welche allerdings nicht weiter erlĂ€utert werden. Hier wĂ€ren entsprechende methodologisch-konzeptionelle VorĂŒberlegungen zur Erschließung der verschiedenen Quellensorten notwendig gewesen.

Die Strukturierung der Arbeit orientiert sich an einer groben chronologischen Gliederung mit einzelnen Kapiteln zu den ZeitrĂ€umen 1870-1900, 1900-1933, 1933-1945, 1945-1968 [sic] und 1970 bis 1979, die in ihrer Unterteilung den drei Dimensionen des „Wertewandeldreiecks“ folgen, wobei die institutionellen Rahmenbedingungen anhand von regionalen Fallbeispielen einzelner LĂ€nder bzw. BundeslĂ€nder dargestellt werden. Daran schließen sich acht „LĂ€ngsschnitte“ an (397), u.a. zum Wandel der geschlechtsspezifischen Konnotation der ‚Debatten‘ oder dem verĂ€nderten VerstĂ€ndnis einzelner Begriffe wie Ehre, MenschenwĂŒrde, Gewalt, Gehorsam und AutoritĂ€t.

Hoff zeichnet ein facettenreiches Bild der Auseinandersetzungen ĂŒber die Bedeutung der körperlichen Strafe in der Schule. Die breite Quellengrundlage ermöglicht es, den sich nur langsam verĂ€ndernden Bedingungszusammenhang fĂŒr die Beharrungskraft der körperlichen ZĂŒchtigung als Erziehungsmittel multiperspektivisch zu rekonstruieren. Bemerkenswert ist dabei die gesellschaftliche Durchsetzungskraft der verschiedenen Gruppen aus Wissenschaft, Praxis und Politik, welche sich fĂŒr eine Beibehaltung der körperlichen Strafe einsetzten und denen es in wechselnden Koalitionen bis in die 1960er-Jahre immer wieder gelang, die Initiativen der Gegner körperlicher ZĂŒchtigung zu konterkarieren und das mit der Strafe verbundene Leid der Kinder durch die Skandalisierung der gesellschaftlichen Auswirkungen vermeintlicher moralischer Fehlentwicklungen zu kaschieren. Hoff kann zeigen, dass die grundlegenden Argumente gegen die körperliche ZĂŒchtigung wie z.B. „der Verweis auf die MenschenwĂŒrde des Kindes, auf Erziehungsziele wie SelbstwertgefĂŒhl oder auf psychologische und medizinische Gefahren von SchlĂ€gen“ bereits seit dem 19. Jh. dargelegt wurden (457). Sie analysiert die „Verschiebungen“ in der MeinungsfĂŒhrerschaft (457) und arbeitet heraus, wie die körperliche Strafe als Erziehungsmittel gegen Kritik immunisiert werden konnte. Maßgeblich fĂŒr den Erfolg dieser Strategie war die schon fast obsessive Inszenierung der Möglichkeit, das Kind sittlich bessern zu können, was gleichzeitig mit der Dramatisierung eines AutoritĂ€tsverlusts der LehrkrĂ€fte verbunden war (457-458).

Aufschlussreich ist hierbei die Praxis der Rechtsprechung, die die körperliche ZĂŒchtigung im Wesentlichen als Gewohnheitsrecht rechtfertigte, das sittlich geboten sei. Am Beispiel einzelner FĂ€lle wird deutlich, welche Verletzungen SchĂŒler:innen in der Schule erleiden mussten und inwieweit sich die gewalttĂ€tigen LehrkrĂ€fte auf die Aufrechterhaltung ihrer AutoritĂ€t und das ‚moralische‘ Erfordernis berufen konnten, den Gehorsam bei den Kindern durchzusetzen. Selbst zwischenzeitlich eingefĂŒhrte gesetzliche Verbote der körperlichen ZĂŒchtigung, wie z.B. 1922 in Sachsen, konnten wieder rĂŒckgĂ€ngig gemacht werden.

Der vergleichsweise umfangreiche Untersuchungszeitraum birgt aber auch die Gefahr, einzelne Gruppierungen in ihren ArgumentationszusammenhĂ€ngen zu harmonisieren und die BrĂŒche im Diskurs aus dem Blick zu verlieren. Dies lĂ€sst sich am Beispiel der ReformpĂ€dagogik verdeutlichen, fĂŒr die, neben Friedrich Wilhelm Foerster, Ellen Key herangezogen wird. So wird z.B. Keys Kritik an der körperlichen ZĂŒchtigung als „eine der frĂŒhesten und radikalsten Ablehnungen körperlicher Strafen“ paradigmatisch fĂŒr die in dieser Zeit „typischen Aufbruchs- und Fortschrittsgedanken“ der ‚reformpĂ€dagogischen Bewegung‘ insgesamt dargestellt (122-123), dabei jedoch nicht berĂŒcksichtigt, dass Key fĂŒr die ersten drei Lebensjahre des Kindes „eine Art Dressur“ als „notwendig“ erachtete und dabei davon ausging, „daß ein leichter, physischer Schmerz oder Genuß oft die einzige Sprache ist, die [
 das Kind] ganz versteht“, da es „in so hohem Grade sinnlich“ sei. [1] Der Sachverhalt wird von Hoff in dem LĂ€ngsschnittkapitel „Gehorsam“ lediglich in einer Fußnote erwĂ€hnt: „Diese Gewöhnung an das Gehorchen sollte fĂŒr Key idealerweise im spĂ€ter nicht mehr bewusst erinnerten Klein(st)kindalter stattfinden und konnte dann auch SchlĂ€ge enthalten“ (440, Fußnote 180).

FĂŒr die ‚theoretische PĂ€dagogik‘ z.B. konstatiert Hoff seit 1965 „eine absolute, keine Ausnahmen zulassende Gegnerschaft“ (377). TatsĂ€chlich fiel die eindeutige Distanzierung von der körperlichen Strafe indes schwer. So schreibt z.B. Heinrich Rombach 1967, dass die „körperliche ZĂŒchtigung“, „wegen ihrer elementaren Bedeutung als eine Grundform des Strafens immer als Möglichkeit zur VerfĂŒgung“ stehe und deren „Berechtigung oder Nichtberechtigung [
] pĂ€dagogisch vom jeweils erreichten Strafniveau“ abhĂ€nge [2], Wolfgang Scheibe „entschuldigt“ diese Strafe 1967, bei aller Kritik, „in einer verzweifelten Lage mit schlechtem pĂ€dagogischen Gewissen als Ausnahme in einer Art Selbstwehr“ [3] und Ernst Cloer formuliert noch 1982 im Anschluss an GĂŒnter Schreiner, dass die „Körperstrafe nicht in jedem Fall ein Tabu“ sei. [4]

Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Entscheidung, das Forschungsinteresse ausschließlich auf die körperliche Strafe zu begrenzen, da so die erziehungstheoretischen Legitimationsdiskurse alternativer Strafformen aus dem Blick geraten und die Geschichte der PrĂŒgelstrafe schnell, wie Hoff dies selbst feststellt, zu einer Fortschrittsgeschichte geraten kann (461). HĂ€ufig haben Gegner der körperlichen Strafe jedoch alternative verletzende Strafformen diskutiert und eingesetzt, wie z.B. die Instrumentalisierung des ‚EhrgefĂŒhls‘ des Kindes durch dessen BeschĂ€mung.

Mit ihrer Studie hat Sarina Hoff jedoch einen umfassenden und detailreichen Überblick zur Geschichte der PrĂŒgelstrafe vorgelegt, der zugleich den weiteren Forschungsbedarf fĂŒr eine Historiografie der pĂ€dagogischen Strafe aufzeigt, insbesondere zu den alternativ eingesetzten Strafformen und deren erziehungstheoretischer Rechtfertigung (461-462).

[1] Key, E. (1902). Das Jahrhundert des Kindes. Studien. Autorisierte Übertragung von Francis Maro. (S. 86). Fischer.
[2] Rombach, H. (1967). Das Wesen der Strafe. In Willmann-Institut (Hrsg.). PĂ€dagogik der Strafe. (S. 3-31, hier S. 23). Herder.
[3] Scheibe, W. (1967). Die Strafe als Problem der Erziehung. Eine historische und systematische pÀdagogische Untersuchung. (S. 353). Beltz.
[4] Cloer, E. (1982). Disziplinieren und Erziehen. Das Disziplinproblem in pÀdagogisch-anthropologischer Sicht. (S.129). Klinkhardt.
Carsten Heinze (Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Carsten Heinze: Rezension von: Hoff, Sarina: Der lange Abschied von der PrĂŒgelstrafe, Körperliche Schulstrafen im Wertewandel 1870–1980. Berlin/ Boston: de Gruyter Oldenbourg 2023. In: EWR 24 (2025), Nr. 2 (Veröffentlicht am 29.04.2025), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978311062761.html