
FĂŒr die Rekonstruktion der âMechanismen des Wandelsâ sei es notwendig, so Hoff, âerstens die Debatten, zweitens die Gesetze, Erlasse und strafrechtlichen Bewertungen, die den institutionellen Rahmen des ZĂŒchtigungsrechts festlegten, sowie drittens die soziale Praxisâ zu berĂŒcksichtigen und deren wechselseitige Beeinflussung zu betrachten (18). Angesichts des vergleichsweise langen Untersuchungszeitraums grenzt sie ihren Gegenstandsbereich ein, indem sie sich ausschlieĂlich auf Körperstrafen in der Schule konzentriert und andere Strafformen sowie körperliche Strafen in der Heimerziehung und in der Familie im Wesentlichen ausklammert.
Um die Auseinandersetzung ĂŒber die körperliche Strafe in ihrer Breite erforschen zu können, legt Hoff ihrer Studie ein vielschichtiges Quellenkorpus zugrunde, fĂŒr dessen Zusammenstellung sie sich an den drei Polen des âWertewandeldreiecksâ orientiert. Zur Erfassung der âDebattenâ (23), auf der ersten Ebene, bezieht sie wissenschaftliche Publikationen aus PĂ€dagogik, Psychologie und Rechtswissenschaft in Lexika, Lehr- und HandbĂŒchern sowie Fachzeitschriften ein. Bei der Rechtswissenschaft kommen Dissertationen, Gesetzeskommentare und Entscheidungssammlungen der Rechtsprechung hinzu. Die âfachlich-praxisbezogenen Diskussionenâ der LehrkrĂ€fte (23) finden durch die Aufnahme der BeitrĂ€ge einschlĂ€giger Zeitschriften, der Vereinspresse sowie interner archivalisch ĂŒberlieferter Unterlagen von Vereinen und VerbĂ€nden Eingang in das Korpus. Ăber Presseartikel sowie SachbĂŒcher wird zudem die gesamtgesellschaftliche Diskussion abgebildet.
Auf der zweiten Ebene, den institutionellen und bildungspolitischen Rahmenbedingungen, geht es um Gesetze und Verordnungen, deren Genese anhand von Parlamentsprotokollen und Akten der Kultusadministration rekonstruiert wird. Angesichts unzureichender Ăberlieferungen gestaltete sich der Zugang zur dritten Ebene, der âsozialen Praxisâ, am schwierigsten. Hoff greift hier auf âaktenkundige Untersuchungenâ zurĂŒck, die im Rahmen von Straf- und Disziplinarverfahren wegen VerstöĂen gegen das ZĂŒchtigungsrecht durchgefĂŒhrt worden sind (25). Methodisch rekurriert sie auf âhermeneutische Verfahrenâ (17), welche allerdings nicht weiter erlĂ€utert werden. Hier wĂ€ren entsprechende methodologisch-konzeptionelle VorĂŒberlegungen zur ErschlieĂung der verschiedenen Quellensorten notwendig gewesen.
Die Strukturierung der Arbeit orientiert sich an einer groben chronologischen Gliederung mit einzelnen Kapiteln zu den ZeitrĂ€umen 1870-1900, 1900-1933, 1933-1945, 1945-1968 [sic] und 1970 bis 1979, die in ihrer Unterteilung den drei Dimensionen des âWertewandeldreiecksâ folgen, wobei die institutionellen Rahmenbedingungen anhand von regionalen Fallbeispielen einzelner LĂ€nder bzw. BundeslĂ€nder dargestellt werden. Daran schlieĂen sich acht âLĂ€ngsschnitteâ an (397), u.a. zum Wandel der geschlechtsspezifischen Konnotation der âDebattenâ oder dem verĂ€nderten VerstĂ€ndnis einzelner Begriffe wie Ehre, MenschenwĂŒrde, Gewalt, Gehorsam und AutoritĂ€t.
Hoff zeichnet ein facettenreiches Bild der Auseinandersetzungen ĂŒber die Bedeutung der körperlichen Strafe in der Schule. Die breite Quellengrundlage ermöglicht es, den sich nur langsam verĂ€ndernden Bedingungszusammenhang fĂŒr die Beharrungskraft der körperlichen ZĂŒchtigung als Erziehungsmittel multiperspektivisch zu rekonstruieren. Bemerkenswert ist dabei die gesellschaftliche Durchsetzungskraft der verschiedenen Gruppen aus Wissenschaft, Praxis und Politik, welche sich fĂŒr eine Beibehaltung der körperlichen Strafe einsetzten und denen es in wechselnden Koalitionen bis in die 1960er-Jahre immer wieder gelang, die Initiativen der Gegner körperlicher ZĂŒchtigung zu konterkarieren und das mit der Strafe verbundene Leid der Kinder durch die Skandalisierung der gesellschaftlichen Auswirkungen vermeintlicher moralischer Fehlentwicklungen zu kaschieren. Hoff kann zeigen, dass die grundlegenden Argumente gegen die körperliche ZĂŒchtigung wie z.B. âder Verweis auf die MenschenwĂŒrde des Kindes, auf Erziehungsziele wie SelbstwertgefĂŒhl oder auf psychologische und medizinische Gefahren von SchlĂ€genâ bereits seit dem 19. Jh. dargelegt wurden (457). Sie analysiert die âVerschiebungenâ in der MeinungsfĂŒhrerschaft (457) und arbeitet heraus, wie die körperliche Strafe als Erziehungsmittel gegen Kritik immunisiert werden konnte. MaĂgeblich fĂŒr den Erfolg dieser Strategie war die schon fast obsessive Inszenierung der Möglichkeit, das Kind sittlich bessern zu können, was gleichzeitig mit der Dramatisierung eines AutoritĂ€tsverlusts der LehrkrĂ€fte verbunden war (457-458).
Aufschlussreich ist hierbei die Praxis der Rechtsprechung, die die körperliche ZĂŒchtigung im Wesentlichen als Gewohnheitsrecht rechtfertigte, das sittlich geboten sei. Am Beispiel einzelner FĂ€lle wird deutlich, welche Verletzungen SchĂŒler:innen in der Schule erleiden mussten und inwieweit sich die gewalttĂ€tigen LehrkrĂ€fte auf die Aufrechterhaltung ihrer AutoritĂ€t und das âmoralischeâ Erfordernis berufen konnten, den Gehorsam bei den Kindern durchzusetzen. Selbst zwischenzeitlich eingefĂŒhrte gesetzliche Verbote der körperlichen ZĂŒchtigung, wie z.B. 1922 in Sachsen, konnten wieder rĂŒckgĂ€ngig gemacht werden.
Der vergleichsweise umfangreiche Untersuchungszeitraum birgt aber auch die Gefahr, einzelne Gruppierungen in ihren ArgumentationszusammenhĂ€ngen zu harmonisieren und die BrĂŒche im Diskurs aus dem Blick zu verlieren. Dies lĂ€sst sich am Beispiel der ReformpĂ€dagogik verdeutlichen, fĂŒr die, neben Friedrich Wilhelm Foerster, Ellen Key herangezogen wird. So wird z.B. Keys Kritik an der körperlichen ZĂŒchtigung als âeine der frĂŒhesten und radikalsten Ablehnungen körperlicher Strafenâ paradigmatisch fĂŒr die in dieser Zeit âtypischen Aufbruchs- und Fortschrittsgedankenâ der âreformpĂ€dagogischen Bewegungâ insgesamt dargestellt (122-123), dabei jedoch nicht berĂŒcksichtigt, dass Key fĂŒr die ersten drei Lebensjahre des Kindes âeine Art Dressurâ als ânotwendigâ erachtete und dabei davon ausging, âdaĂ ein leichter, physischer Schmerz oder GenuĂ oft die einzige Sprache ist, die [⊠das Kind] ganz verstehtâ, da es âin so hohem Grade sinnlichâ sei. [1] Der Sachverhalt wird von Hoff in dem LĂ€ngsschnittkapitel âGehorsamâ lediglich in einer FuĂnote erwĂ€hnt: âDiese Gewöhnung an das Gehorchen sollte fĂŒr Key idealerweise im spĂ€ter nicht mehr bewusst erinnerten Klein(st)kindalter stattfinden und konnte dann auch SchlĂ€ge enthaltenâ (440, FuĂnote 180).
FĂŒr die âtheoretische PĂ€dagogikâ z.B. konstatiert Hoff seit 1965 âeine absolute, keine Ausnahmen zulassende Gegnerschaftâ (377). TatsĂ€chlich fiel die eindeutige Distanzierung von der körperlichen Strafe indes schwer. So schreibt z.B. Heinrich Rombach 1967, dass die âkörperliche ZĂŒchtigungâ, âwegen ihrer elementaren Bedeutung als eine Grundform des Strafens immer als Möglichkeit zur VerfĂŒgungâ stehe und deren âBerechtigung oder Nichtberechtigung [âŠ] pĂ€dagogisch vom jeweils erreichten Strafniveauâ abhĂ€nge [2], Wolfgang Scheibe âentschuldigtâ diese Strafe 1967, bei aller Kritik, âin einer verzweifelten Lage mit schlechtem pĂ€dagogischen Gewissen als Ausnahme in einer Art Selbstwehrâ [3] und Ernst Cloer formuliert noch 1982 im Anschluss an GĂŒnter Schreiner, dass die âKörperstrafe nicht in jedem Fall ein Tabuâ sei. [4]
Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Entscheidung, das Forschungsinteresse ausschlieĂlich auf die körperliche Strafe zu begrenzen, da so die erziehungstheoretischen Legitimationsdiskurse alternativer Strafformen aus dem Blick geraten und die Geschichte der PrĂŒgelstrafe schnell, wie Hoff dies selbst feststellt, zu einer Fortschrittsgeschichte geraten kann (461). HĂ€ufig haben Gegner der körperlichen Strafe jedoch alternative verletzende Strafformen diskutiert und eingesetzt, wie z.B. die Instrumentalisierung des âEhrgefĂŒhlsâ des Kindes durch dessen BeschĂ€mung.
Mit ihrer Studie hat Sarina Hoff jedoch einen umfassenden und detailreichen Ăberblick zur Geschichte der PrĂŒgelstrafe vorgelegt, der zugleich den weiteren Forschungsbedarf fĂŒr eine Historiografie der pĂ€dagogischen Strafe aufzeigt, insbesondere zu den alternativ eingesetzten Strafformen und deren erziehungstheoretischer Rechtfertigung (461-462).
[1] Key, E. (1902). Das Jahrhundert des Kindes. Studien. Autorisierte Ăbertragung von Francis Maro. (S. 86). Fischer.
[2] Rombach, H. (1967). Das Wesen der Strafe. In Willmann-Institut (Hrsg.). PĂ€dagogik der Strafe. (S. 3-31, hier S. 23). Herder.
[3] Scheibe, W. (1967). Die Strafe als Problem der Erziehung. Eine historische und systematische pÀdagogische Untersuchung. (S. 353). Beltz.
[4] Cloer, E. (1982). Disziplinieren und Erziehen. Das Disziplinproblem in pÀdagogisch-anthropologischer Sicht. (S.129). Klinkhardt.