
Die zehn Beiträge des Bandes gründen – zumindest in Teilen – auf einem im Wintersemester 2021/2022 durchgeführten Workshop und spannen einen Bogen von der wissenschaftlichen Pädagogik im späten 18. Jahrhundert bis hin zum Jahr 2024. Die Pädagogik und Erziehungswissenschaft an der Universität Münster betreffend werden dabei historische, gesellschaftliche und institutionelle Rahmenbedingungen, die sich wandelnden Strukturen sowie ausgewählte Personen beleuchtet. Durch Bezugnahme auf gesamtdisziplinäre Entwicklungen wird die Konstitution der Münsterschen Pädagogik und Erziehungswissenschaft zudem im disziplin- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext verortet. Damit versteht sich der von Andreas Oberdorf, Patrick Gollub und Tim Zumhof herausgegebene Sammelband „sowohl als Beitrag zur Geschichte der Universität Münster als auch als Teil der Disziplin- und Wissenschaftsgeschichte der Erziehungswissenschaft im deutschsprachigen Raum“ (9).
Die Beiträge des Sammelbandes werden in chronologischer Anordnung dargeboten. Vier der Beiträge thematisieren die Entwicklungen von der Eröffnung der Universität im Jahr 1773 – über die Umwandlung in eine Akademie und deren Wiedererhebung in den Rang einer Universität im Jahr 1902 – bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, während fünf weitere die Zeit zwischen 1945 und 2024 bearbeiten. Der Beitrag von Sabine Happ zur Bedeutung des Universitätsarchivs für die Erforschung der pädagogischen Disziplingeschichte steht dagegen abseits der sonst chronologischen Ordnung.
Eröffnet wird der Sammelband durch Jürgen Overhoff: Ausgehend von der Feststellung, dass in den 1770er-Jahren in Preußen eine „moderne Wissenschaft von der Erziehung und für die Erziehung entstand“ (11), arbeitet Overhoff heraus, weshalb die Pädagogik an der Universität Münster zunächst keine institutionelle Etablierung erfuhr, und zeigt, dass pädagogische Fragestellungen zwischen 1773 und 1815 vornehmlich im Rahmen der Psychologie verhandelt wurden. Andreas Oberdorf fragt anschließend, inwiefern bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts „Ansätze und Anfänge wissenschaftlicher Pädagogik […] an der Akademie Münster“ (25) zu erkennen seien. Dabei verfolgt Oberdorf zwei Entwicklungsstränge, die „Anstöße zur Konstituierung einer Pädagogik als Wissenschaft zu erkennen geben“ (41): 1. die Institutionalisierung des 1824 gegründeten Philologisch-pädagogischen Seminars sowie 2. die Bemühungen Albert Stöckls, eine katholisch geprägte wissenschaftliche Pädagogik zu etablieren. Im darauffolgenden Beitrag zeichnet Anna Strunk die Entstehung wissenschaftlicher Fortbildungskurse für Lehrerinnen im sogenannten Anna-Stift nach. Dieses wurde von der katholischen Kirche betrieben und hatte zum Ziel, deren Einfluss im Bildungswesen zu sichern und gleichzeitig dem wachsenden Fortbildungsbedarf für Lehrerinnen gerecht zu werden. Unter Verwendung bisher unbeachteter Quellen verweist Strunk auf die Unterschiede zwischen dem Universitätsstudium und der Ausbildung im Anna-Stift: Letztere war nur ausgewählten Frauen zugänglich und erforderte die „Einhaltung des klösterlichen Lebens“ (55). Daran anschließend wählt Hans-Joachim von Olberg einen akteurszentrierten Zugang, fokussiert die Zeit des Nationalsozialismus und zeigt, dass sich die marginale Stellung der Münsterschen Pädagogik während des Nationalsozialismus durch politische Anpassung und Selbstgleichschaltung, staatliche Eingriffe sowie strukturelle Veränderungen verschärfte.
Ewald Terhart eröffnet die Auseinandersetzung mit der Münsterschen Pädagogik und Erziehungswissenschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dabei legt er die Entwicklungen der Jahre 1945 bis 1990 dar und verweist auf die Interdependenzen zwischen der Studierendenanzahl in der Lehrer:innenbildung und den strukturellen Veränderungen in dieser Zeit. Davon ausgehend, dass die Akademisierung des Lehrer:innenberufs „ein gewichtiger Faktor bei der Etablierung und Formierung der Erziehungswissenschaft als akademische Disziplin nach 1945“ (118) darstellt, zeichnet Martin Rothland anschließend die Wechselwirkungen zwischen der Lehrer:innenbildung und der Disziplinformierung nach und konstatiert, dass der Anstieg der Lehramtsstudierenden zwischen 1945 und den 1960er Jahren zur Einrichtung entsprechender Lehrstühle und zur Institutionalisierung der Disziplin geführt hat. Im darauffolgenden Beitrag zielt Tim Zumhof darauf ab, die Position Herwig Blankertz‘ im Kontext der sozialwissenschaftlichen Wende zu rekonstruieren. Zumhof zeigt, dass Blankertz einer geisteswissenschaftlichen Theoriebildung verhaftet blieb und die Forderung nach einer Neuausrichtung pädagogischer Forschung in Münster „nicht unmittelbar zu einem Ausbau empirischer Forschungsaktivitäten, wohl aber zu einer gesellschaftstheoretischen und ideologiekritischen Wendung“ (156) führte.
Bernd Zymek beleuchtet anschließend die personellen, strukturellen und institutionellen Transformationen des Instituts für Erziehungswissenschaft in den Jahren zwischen 1993 und 2010 und verortet diese im Kontext sozialer, politischer und hochschulinterner Entwicklungen. Der Generationenwechsel, aber auch organisatorische Neuerungen hätten Zymek zufolge zu einer inhaltlichen und methodischen Neuakzentuierung des Instituts geführt. Vervollständigt wird die historische Perspektive durch den Beitrag von Andreas Oberdorf und Patrick Gollub, die nach den profilbezogenen Transformationen des Instituts für Erziehungswissenschaft zwischen 2010 und 2024 fragen. Die Autoren zeigen, dass die Fortsetzung des Generationenwechsels und die damit einhergehende „erweiterte[] Schwerpunktbildung“ (190) zu einer Schärfung bei gleichzeitiger Ausdifferenzierung des institutionellen Profils führte. Sabine Happ beschließt den Sammelband mit einem beschreibenden Beitrag zu den Archivalien zur Erziehungswissenschaft und zeigt auf, welche Bedeutung dem Universitätsarchiv Münster, aber auch weiteren Archiven bezüglich der Erforschung der Geschichte dieser Disziplin zukommt.
Der Sammelband schließt ein bestehendes Forschungsdesiderat, indem er die Entwicklung der Pädagogik und Erziehungswissenschaft an der Universität Münster zwischen 1773 und 2024 darstellt und im gesamtdisziplinären Kontext verortet. Dabei finden sich vielfältige Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand, die von der Auseinandersetzung mit strukturellen Veränderungen über die Analyse einzelner Einrichtungen bis zu personenzentrierten Ansätzen reichen. Bezüglich Letzterer sei angemerkt, dass deren Fokus insbesondere auf dem professoralen Personal liegt, während die Perspektive des akademischen Mittelbaus, aber auch die studentische Perspektive in den Hintergrund geraten. Auch die bearbeiteten Zeiträume werden unterschiedlich gewichtet: So wird beispielsweise die Zeit der Weimarer Republik nur kurz thematisiert, wohingegen die Beiträge, die sich den Jahren zwischen 1945 und 2024 widmen, punktuell durch inhaltliche Wiederholungen gekennzeichnet sind. Die unterschiedlichen zeitlichen wie inhaltlichen Schwerpunktsetzungen des Sammelbandes erschweren es dabei, ein kohärentes Gesamtbild über Personal, Lehrgestalt und Forschungstätigkeiten im Zeitverlauf zu gewinnen. Neben den unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen zeichnet sich der Sammelband durch das umfangreiche Quellenmaterial aus, das zur Bearbeitung der verschiedenen Thematiken herangezogen wird. Allerdings bleibt eine kritische Reflexion sowohl der verwendeten Quellen als auch der Herausforderungen, die mit einer institutsgeschichtlichen Auseinandersetzung einhergehen – etwa die Festlegung zeitlicher und thematischer Schwerpunkte –, weitgehend aus. Trotz der aufgezeigten Schwächen bietet der Sammelband aufgrund des umfangreichen Untersuchungszeitraums, der Verbindung von Lokal- und Disziplingeschichte sowie seiner quellengesättigten Fundierung vielfältige Einblicke in die Pädagogik und Erziehungswissenschaft an der Universität Münster, die durch zahlreiche Abbildungen und tabellarische Darstellungen ergänzt werden.
[1] vom Bruch, R. (2007). »Universität« – ein »deutscher Erinnerungsort«?, In J. John & J. H. Ulbricht (Hg.), Jena. Ein nationaler Erinnerungsort? (S. 93-99, hier: S. 98). Böhlau Köln.
[2] Exemplarisch sei genannt: Böge, M., & Buck M. F. (Hg.). (2019). Pädagogik als Disziplin und Profession – historische Perspektiven auf die Zukunft: Beiträge zum 350. Jubiläum der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Peter Lang.