
Im ersten Teil widmen sich Christoph Fasbender und Michael von Engelberg den âGrundlagen frĂŒhneuzeitlicher Bildungstheorie und -architekturâ. Fasbender beschreibt die konkrete Gestaltung zweier Schulbauten aus dem 16. und frĂŒhen 17. Jahrhundert. Er identifiziert die Aussen- beziehungsweise Innendarstellungen in den beiden Schulen als mediale TrĂ€ger von Bildungswissen. Neben dieser kĂŒnstlerischen ReprĂ€sentation von Bildungsstoffen zieht Fasbender Thomas Campanellas Beschreibung der Wandbilder in den fiktiven GebĂ€uden des âSonnenstaatesâ (1602) heran, um Bildungstheorien frĂŒhneuzeitlicher Schulen auf die Spur zu kommen [4]. Im Anschluss an diesen Betrag wendet sich Michael von Engelberg der Frage zu: Was wurde im 17. Jahrhundert gebaut und wie wurde es theoretisch reflektiert? Der Autor kommt zu dem ernĂŒchternden Befund, dass â jedenfalls in dieser Zeit â nicht von einem engen Zusammenhang zwischen Architekturtheorie und tatsĂ€chlichen Bauten ausgegangen werden kann, auch wenn es gelegentlich zu BerĂŒhrungspunkten zwischen beiden Bereichen gekommen sei.
Im zweiten Teil geht es um âFrĂŒhneuzeitliche Schularchitekturen in europĂ€ischer Perspektiveâ. Neben AufsĂ€tzen zur Schularchitektur in England, den böhmischen KronlĂ€ndern und jĂŒdischen Schulen in Deutschland sollen zwei BeitrĂ€ge hervorgehoben werden. Sie widmen sich SchulgrĂŒndungen mit Ă€hnlichen rĂ€umlichen Dimensionen und pĂ€dagogischen âGeneralplĂ€nenâ wie das Hallische Waisenhaus. Insofern liegt die Annahme nahe, dass ein Zusammenhang von Erziehungszielen und Schulbau besteht. Rui Lobos gibt einen Ăberblick ĂŒber die frĂŒhen Jesuitenkollegien, die sich alle durch architektonisch Ă€hnliche Merkmale auszeichnen: Bebauung um einen Innenhof und planmĂ€Ăige Anlage von Schlaf- und UnterrichtsrĂ€umen fĂŒr eine groĂe Zahl von SchĂŒlern. Bei der Maison Royale de Saint Louis in Saint-Cyr, die Lars Cyril Norgaard vorstellt, handelt es sich um einen mehrflĂŒgeligen Funktionsbau des Hofarchitekten Jules Hardouin-Mansart (1646-1708) fĂŒr ein Erziehungsinstitut, in dem ca. 300 Töchter des französischen Adels leben und lernen sollten. GegrĂŒndet wurde das Internat 1685 im königlichen Auftrag von Françoise dâAubignĂ© (1635-1719), bekannter als Madame de Maintenon und Gattin Ludwig XIV.. Die Einrichtung durch die Stifterin fand unter Hinzuziehung des von August Hermann Francke geschĂ€tzten PĂ€dagogen François FĂ©nelon (1651-1715) statt und folgte ausdrĂŒcklich pĂ€dagogischen Zielsetzungen.
Im dritten Teil âDie Franckeschen Stiftungen. Eine einzigartige frĂŒhneuzeitliche Schularchitektur?â wird der Zusammenhang von Erziehungszielen und Architektur differenziert vorgestellt. Thomas EiĂing arbeitet heraus, wie die frĂŒhe Planung Franckes, die unter dem Einfluss philadelphischer, d.h. religiös bestimmter Vorstellungen stand, nach 1718 eindeutig durch pragmatischere Lösungen ersetzt wurde. AusfĂŒhrlich werden fĂŒr die erste Bauphase die architektonischen Parallelen zum salomonischen Tempel diskutiert, der fĂŒr die philadelphische Weltsicht im Zeitalter der aufkommenden Naturwissenschaft eine hohe wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung hatte, die jedoch im Verlauf des 18. Jahrhunderts offenbar keine Rolle mehr spielte [5]. Johannes SĂŒĂmann untersucht mit RĂŒckgriff auf Max Weber die Habitusformierung der Kinder durch die Architektur der Stiftungen. Man muss von einem archivalischen GlĂŒcksfall sprechen, dass der Autor dafĂŒr eine FĂŒlle von bislang unerschlossenen Archivalien, in diesem Fall Planskizzen fĂŒr die Gestaltung der InnenrĂ€ume der Stiftungen nutzen kann. Hier schlieĂt Michael Rocher an. Auch er kann auf der Basis von Bauplanungsunterlagen, Protokollen und Praktiken der Einstufung von SchĂŒlern nach Fachleistung zeigen, wie im PĂ€dagogium der Franckeschen Stiftungen bereits im frĂŒhen 18. Jahrhundert Raumgestaltung und Klassenordnungen zur Etablierung eines Leistungsprinzips fĂŒhrten, das mit dem sogenannten ânormativenâ, in diesem Fall pietistischen Konzept in der Einrichtung in Einklang stand [6].
Vier BeitrĂ€ge zu âAusstrahlung der Schularchitektur der Franckeschen Stiftungen im internationalen Vergleichâ werden im letzten Teil gebĂŒndelt. Fanny Isensee und Daniel Töpper mĂŒssen feststellen, dass in Deutschland das Konzept der Franckeschen Stiftungen als Baukörper, der verschiedene Schultypen in sich vereinigte, in dem von ihnen als âpĂ€dagogischer Diskurs der Sattelzeitâ bezeichneten Quellenbestand nicht rezipiert wird. Die Untersuchung der prominenten US-amerikanischen Reiseberichte aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kommt zum gleichen Ergebnis. Als ErklĂ€rung verweisen die Autoren auf die Ausdifferenzierung des Schulwesens nach sozialen Kategorien im 19. Jahrhundert, der in den Franckeschen Stiftungen nicht Rechnung getragen worden sei. In anderen Weltgegenden hingegen lĂ€sst sich eine âAusstrahlungâ Halles feststellen. Institutionell bestanden naturgemÀà enge Verbindungen zwischen Halle und der DĂ€nisch-Hallischen Mission in Tranquebar. Bei den indischen GrĂŒndungen ging es jedoch weniger um eine einseitige âAusstrahlungâ von Halle als vielmehr um eine Austauschbeziehung in beide Richtungen. Die indische Lehr- und Lerntradition, so kann Christoph Haar im Anschluss an die Arbeiten von Heike Liebau [7] zeigen, wirkte sich auch auf die bauliche Konzeption der âTranquebarschen Anstaltenâ aus. Hier haben wir es mit entangled history im engen Sinn zu tun. Diese hat ihre eigenen historiographischen Schwierigkeiten, weil die missionsgeschichtlichen Narrative manches verdecken. Die einseitig europĂ€ische Perspektive musste Sven Reinhardt beiseite rĂ€umen, um Christoph Samuel Johns GrĂŒndung der âSchulanstalt fĂŒr EuropĂ€ische Kinder und Malabrische JĂŒnglingeâ ĂŒberhaupt zu entdecken. Die Schule kann mit Heike Liebau als âinterkulturelles Experimentâ bezeichnet werden. Es war die explizite Absicht des Missionars und ehemaligen Lehrers an der Lateinschule des Hallischen Waisenhauses, dass diese Schule im Sinne des Franckeschen âPflantzgartensâ allen befĂ€higten Kindern in Tranquebar, zahlenden und nicht zahlenden, zur VerfĂŒgung stand.
Nicht alle BeitrĂ€ge konnten im Rahmen dieser Rezension angemessen gewĂŒrdigt werden. AbschlieĂend einige Ăberlegungen zu methodischen Fragen. Kann man die Maison Royale de Saint Louis zur Privatschule erklĂ€ren? Die Schule kann genauso gut als Teil einer staatlichen Strategie des französischen Absolutismus interpretiert werden, denn das MĂ€dchenschulwesen in Europa lĂ€sst sich bis ins frĂŒhe 20. Jahrhundert nicht mit der Dichotomie von âprivatâ und öffentlichâ erfassen. Fanny Isensee und Daniel Töpper erklĂ€ren ihren Befund, dass die Stiftungsschulen in den von ihnen untersuchten Diskursen nicht rezipiert wurden, mit der mangelnden sozialen Differenzierung der Stiftungsschulen. Das Argument kann in dieser generalisierten Form nicht ĂŒberzeugen, denn die Stiftungsschulen waren durchaus entlang sozialer Kategorien organisiert. Andere Faktoren mĂŒssen eine Rolle gespielt haben. Ein wichtiger Faktor liegt darin, dass Schulentwicklung im 19. Jahrhundert als nationale Aufgabe in staatlichen Strukturen stattfand und nicht in groĂen, international vernetzten Reformprojekten wie dem Hallischen Waisenhaus. Vergleichsprojekte finden sich aber in den bedeutenden SchulgrĂŒndungen der Jesuiten und auch der weiblichen Orden und Lehrkongregationen im 16., 17. Jahrhundert und frĂŒhen 18. Jahrhundert im katholischen Europa und seinen Kolonien. Weder der deutschsprachige noch der angloamerikanische pĂ€dagogische Diskurs nehmen diese Schulen und ihre PĂ€dagogik zur Kenntnis. Insofern ist Thomas Grunewald in seinen abschlieĂenden Ăberlegungen zu den Ergebnissen der Tagung zuzustimmen, dass der Versuch, âWissenstransfer allein an die Existenz von Fachjournalen und darin enthaltene[n] Diskurse[n] anbinden zu wollenâ (342), deutlich zu kurz greift.
UnabhĂ€ngig von diesen Reflexionen formuliert Thomas Grunewald abschlieĂend Forschungsaufgaben fĂŒr die zukĂŒnftige bildungshistorische Schulbauforschung. Es gĂ€lte nun,
- die bauliche Vielfalt von Schulen vor der groĂen Schulbauwelle des 19. Jahrhunderts zu erfassen und zu klassifizieren,
- zu klĂ€ren, ob die Franckeschen Stiftungen Ausnahme sind oder nur aufgrund ihrer ungewöhnlich guten Ăberlieferung als Ausnahme erscheinen,
- Vergleiche mit Schularchitekturen in Asien, Afrika und SĂŒd- und Mittelamerika vorzunehmen ohne die westliche Dominanz der Paradigmen von AufklĂ€rung, Staatlichkeit und ModernitĂ€t heranzuziehen.
[1] von Engelberg, M., EiĂing, T., Heiser, S., SĂŒĂmann, J., & Zaunstöck, H. (2018). âModellâ Waisenhaus? Perspektiven auf die Architektur von Franckes Schulstadt. Verlag der Franckeschen Stiftungen.
[2] Explizit widmet sich dem âspacial turnâ in der historischen Bildungsforschung der Tagungsband von Jelich F.-J., & Kemnitz, H. (Hrsg.). (2003). Die pĂ€dagogische Gestaltung des Raums. Geschichte und ModernitĂ€t. Klinkhart.
[3] Lange, H. (1967). Schulbau und Schulverfassung der frĂŒhen Neuzeit. Zur Entstehung und Problematik des modernen Schulwesens. Beltz.
[4] Zum Bezug der Franckeschen Stiftungen zu den groĂen Renaissanceutopien vgl. bereits Hinrichs, C. (1971). PreuĂentum und Pietismus. (S.29-47). Vandenhoeck & Ruprecht.
[5] EiĂing, T. (2018). Von der Bausubstanz als BedeutungstrĂ€ger. Das Waisenhaus und das Lange Haus der Franckeschen Stiftungen â die Analyse des materiellen Bestandes als Beitrag zu VerstĂ€ndnis von Franckes Bauvorhaben. In M. von Engelberg, T. EiĂing, S. Heiser, J. SĂŒĂmann, & H. Zaunstöck. âModellâ Waisenhaus? Perspektiven auf die Architektur von Franckes Schulstadt. (S. 37-71). Verlag der Franckeschen Stiftungen.
[6] Rocher, M. (2025). »Mit neuem Eifer an der Bildung junger Leute zu arbeiten«. Das PÀdagogium Regium Halle und das Philanthropin Dessau im bildungsrÀumlichen Vergleich. Hallesche Forschungen 69. Verlag der Franckeschen Stiftungen.
[7] Liebau, H. (2006). Das Schulwesen. In Liebau, H. (Hg.): Geliebtes Europa // Ostindische Welt. 300 Jahre interkulturelle Dialog im Spiegel der DĂ€nisch-Halleschen Mission. (S. 136-159). Kataloge der Franckeschen Stiftungen. Harrassowitz.