EWR 21 (2022), Nr. 1 (Januar)

Jörg Zirfas / Moritz Krebs / Leopold Klepacki / Daniel Burghardt / Diana Lohwasser / Juliane Noack Napoles / Tanja Klepacki (Hrsg.)
Geschichte der Ästhetischen Bildung
Das 20. Jahrhundert
Band 4
Paderborn: Brill/Schöningh 2021
(375 S.; ISBN 978-3-506-79129-0; 89,00 EUR)
Geschichte der Ästhetischen Bildung Mit dem vierten Band der „Geschichte der Ästhetischen Bildung“ zum 20. Jahrhundert ist nun eine Unternehmung abgeschlossen worden, die 2009 mit dem ersten Band zur Antike und zum Mittelalter begann und sich damals den Auftrag gab, das Desiderat einer solchen Geschichte historisch-systematisch zu bearbeiten. Die Geschichte der Ästhetischen Bildung, so Johannes Bilstein und Jörg Zirfas in ihrer Einleitung zum ersten Band von 2009, könne „oftmals nur durch eine Art Detektivarbeit hermeneutisch erschlossen werden“, es sei so möglich, eine Geschichte „avant la lettre, d.h. eine implizite Geschichte der (pĂ€dagogischen) Auseinandersetzung“ zu erzĂ€hlen, die nicht immer mit der direkten ErwĂ€hnung des Begriffs der „Ästhetischen Bildung“ zusammenfallen muss 1 Im Falle des abschließenden Bandes zum 20. Jahrhundert ist dabei der Ertrag dieser Geschichte, gemessen an der Beschreibung des eigenen Vorhabens, als mindestens ambivalent zu bestimmen.

Dass es sich nun bei der „Geschichte der Ästhetischen Bildung“ nicht um einen Detektivroman handelt, machen allein die AusfĂŒhrungen zur Methodologie deutlich, die Leopold Klepacki und Zirfas in ihren „Schlussbetrachtungen“ in dem abschließenden Band formulieren. Hier wird deutlich, dass in methodologischer Hinsicht die Autor:innen der einzelnen BeitrĂ€ge einer explizit hermeneutischen Ausrichtung folgten, die dem Prinzip der „doppelten HistorizitĂ€t“ (352) verpflichtet ist. Das VorverstĂ€ndnis – also: „Ästhetische Bildung ist die performative und reflektierende Auseinandersetzung mit Ă€sthetischen PhĂ€nomenen bzw. Sachverhalten und/oder „schönen“ KĂŒnsten“ (354) – bildet den Einsatzpunkt, mit dem die verschiedenen historischen Konzepte der Ästhetischen Bildung betrachtet wurden und der in der Konfrontation mit diesen selbst befragt werden soll. Der methodische Anspruch richtet sich dabei zum einen an die Vorgehensweise – d.h. an „die permanente gegenseitige Korrektur von VorverstĂ€ndnis und TextverstĂ€ndnis, von TextverstĂ€ndnis und Kontext- bzw. IntertextualitĂ€tsverstĂ€ndnis sowie an das kritische Reflektieren der HistorizitĂ€t des Verstehens“ (353) – und andererseits darauf, die Konstruktion einer Idee von Ästhetischer Bildung vorzunehmen (354ff), die „die Idee als etwas stetig Werdendes kenntlich“ (352) macht. Dass zumindest diesen beiden AnsprĂŒchen nicht umfĂ€nglich gerecht geworden ist, veranschaulicht ein kurzer Blick in den Band.

In der Einleitung der Herausgeber:innen wird ein umfassender und rascher Blick auf das 20. Jahrhundert geworfen, insbesondere allgemein auf historische Entwicklungen und Lebensformen, Weltanschauungen, pĂ€dagogische Strömungen sowie auf Ästhetik und Kunst. Zugespitzt werden hier die Beobachtungen zum Teil darauf, dass in diesem Jahrhundert eine zunehmende Ästhetisierung des Alltags stattgefunden habe, auf die auch die Ästhetische Bildung reagierte und in ihrer gegenwĂ€rtigen Verfassung reagieren mĂŒsse. Die daran anschließenden fĂŒnfzehn Texte sind in der Regel nach dem folgenden Muster gegliedert: Leben, Werk sowie Modelle von Ästhetischer Bildung und deren Möglichkeiten und Grenzen. Besonders auffĂ€llig ist hier, dass, abgesehen von der Urheberin der Bildvorlage fĂŒr die Umschlaggestaltung dieses letzten Bandes (Selbstportrait von Marianne Brandt um 1928), kaum bis keinerlei Autorinnen oder Praktikerinnen im vierten Band der Geschichte der Ästhetischen Bildung gefĂŒhrt werden. Dies irritiert, da allein in jĂŒngster Zeit zahlreiche historische Studien – etwa zum Bauhaus, zur Kunst- und Fotografietheorie u.v.w.m. im 20. Jahrhundert – erschienen sind, die es fragwĂŒrdig erscheinen lassen, jene Geschichte auf fast ausschließlich mĂ€nnliche Autoren und Autorengruppen zurĂŒckzufĂŒhren.

Die ersten drei Artikel von Zirfas beschĂ€ftigen sich mit dem Konzept einer Ă€sthetisch-nationalen Volksbildung bei Alfred Lichtwark, der Deutung der Texte Sigmund Freuds zur Phantasie, Erfahrung und Sublimierung als mögliches Konzept einer Ästhetischen Bildung und schließlich mit der pĂ€dagogischen Rolle der Kunst bei John Dewey als pragmatistisches Konzept der Hervorbringung eines guten und gelingenden sozialen Lebens. Der Beitrag von Klepacki widmet sich mittels einer groben Überblicksschau einigen pĂ€dagogischen Ideen des Bauhauses, Diana Lohwasser wagt wiederum den geglĂŒckten Versuch, Walter Benjamins sowie Bertolt Brechts Texte zur Ästhetik pĂ€dagogisch zu lesen und vergleichend darzustellen. Ebenso ĂŒberzeugt die gleichfalls pĂ€dagogisch ausgerichtete Lesart und GegenĂŒberstellung der Reflexionen Siegfried Kracauers und Alexander Kluges zur Film-Bildung von Daniel Burghardt und Moritz Krebs. Dessen Beitrag in Alleinautorenschaft zur Ästhetischen Bildung als Formierung im NS-Staat lĂ€sst – Ă€hnlich wie der von Klepacki zum Bauhaus – PrimĂ€rquellen fast gĂ€nzlich unerwĂ€hnt, bleibt begrifflich unscharf und verliert einen konkreten Gegenstandsbereich zuweilen aus dem Blick.

Tanja Klepacki informiert ideengeschichtlich luzide ĂŒber die Musische Bildung innerhalb des 20. Jahrhunderts, Entwicklungen und BrĂŒche werden hier historisch stĂ€rker kontextualisiert und gedeutet. Burghardts Angebot, die Überlegungen zur Ästhetik von Theodor W. Adorno mit dessen Reflexionen zur Theorie der Halbbildung und MĂŒndigkeit zu verknĂŒpfen, ist ebenso plausibel wie Zirfas BemĂŒhung, die Gedanken Michel Foucaults zur Ästhetik der Existenz als transformatorische Bildungspraxis zu lesen. Lohwassers Rekonstruktion der Schriften von Roland Barthes zum Mythos, Alltag und zur Semiologie, Napoles AnnĂ€herung an das Ästhetikprogramm der SerialitĂ€t bei Andy Warhol und Krebs‘ Deutung der Pop-Musik bei Diedrich Diederichsen als Modell Ästhetischer Bildung mĂŒnden zwar bildungstheoretisch im UngefĂ€hren, stellen aber produktive ZugĂ€nge dar, mit denen sicher auch andere Ă€sthetische Theorien des 20. Jahrhunderts pĂ€dagogisch zu reflektieren wĂ€ren. Burghardts Beitrag zu Pierre Bourdieus Bildungs- und Kultursoziologie im Sinne einer Analyse von Ă€sthetischer Distinktion stellt wiederum einen einfĂŒhrenden Text bereit, der jeder Person empfohlen werden kann, die einen ersten Zugang zum Denken Bourdieus jenseits des intensiven Studiums der PrimĂ€rtexte sucht. Und wer sich einen profunden Einstieg bzw. einen guten Überblick zu den Diskussionen ĂŒber das problematische VerhĂ€ltnis von Kunst und PĂ€dagogik bei Gunter Otto, Gert Selle und Klaus Mollenhauer wĂŒnscht, der ist mit den systematischen Betrachtungen von Leopold Klepacki gut beraten. Zusammenfassend lĂ€sst allein der skizzenhafte Überblick zu den einzelnen BeitrĂ€gen erkennen, dass der Band Quellen aus verschiedenen thematischen Bereichen versammelt, die zumeist von anderen Disziplinen bearbeitet werden.

Einer der AnsprĂŒche des Bandes sowie insgesamt der „Geschichte der Ästhetischen Bildung“ war es, gerade kein „allgemeines abstraktes Wesen von Ästhetischer Bildung herauszudestillieren“ (352). Doch schaut man in das erwĂ€hnte Schlusskapitel, dann hat es den Anschein, als ob auf ca. 20 Seiten der gesamte Ertrag aller bisheriger BĂ€nde in einer Art Mammut-Definition von Ästhetischer Bildung aufgeht, die von der Antike bis zur Gegenwart, von der Rezeption und Produktion, bis hin zur Erfahrung von im weitesten Sinne „Àsthetischen“ GegenstĂ€nden reicht (353-371). Das allgemein gehaltene VorverstĂ€ndnis von Ästhetischer Bildung als performative und Ă€sthetische Auseinandersetzung mit Ă€sthetischen PhĂ€nomenen ist auch dasjenige, welches dann letztendlich zu (fast) allen historischen Konzepten passt; es scheint, als wurde hier tatsĂ€chlich ein abstrakter, ĂŒberhistorischer Begriffsgehalt ein abstraktes Wesen des Begriffs gefunden und belegt.

Ein weiterer Anspruch war es, daran anknĂŒpfend auch – im Sinne der doppelten HistorizitĂ€t –, prĂŒfend das eigene VorverstĂ€ndnis zu befragen. Dies ist in den seltensten FĂ€llen tatsĂ€chlich geschehen, allein die Texte im abschließenden Band weisen nur Spuren dieser Reflexionen auf. Zumeist wird das Quellenmaterial mit der impliziten Begriffsfolie einer Ästhetischen Bildung als Transformation von Welt- und SelbstverhĂ€ltnissen hinsichtlich des Ästhetischen betrachtet. Differenzierter und somit spezifischer hĂ€tten Gemeinsamkeiten und Unterschiede kenntlich gemacht werden können, wenn tatsĂ€chlich in einer hermeneutischen Weise verstehend die beanspruchte ÜberprĂŒfung einen anderen oder ungewohnten Sinn aufgeschlossen hĂ€tte. Zudem ĂŒberrascht es, dass weder in Bezug auf das VorverstĂ€ndnis noch hinsichtlich der Auslegung innerhalb der BeitrĂ€ge eine explizite Differenz zwischen Bildung, Erziehung oder Sozialisation gezogen oder herausgearbeitet wurde. Selbst innerhalb der einzelnen Texte dieses Bandes kam teilweise zum Vorschein, dass sich schon in den Quellen (und hier ließen sich weitere finden) implizite (etwa bei Bourdieu oder Benjamin) oder sogar explizite (etwa bei Lichtwark, Bauhaus, NS-Staat, Dewey, Brecht, Musische Bildung) Reflexionen zu verschiedenen Erziehungsbegriffen finden lassen.

Trotz der erwĂ€hnten methodischen Fallstricke, der damit verbundenen unklaren Differenzierung verschiedener pĂ€dagogischer Grundbegriffe und der an bestimmten Stellen vermeidbaren inhaltlichen Einsparungen bleibt dieser letzte Band der „Geschichte der Ästhetischen Bildung“ dennoch zu empfehlen: Er bildet den Abschluss eines Pionierprojektes, welches mit hermeneutischen Mitteln einen Überblick und eine EinfĂŒhrung zu einem historischen Gegenstand bietet, der von der Historischen Bildungsforschung zu lange unberĂŒcksichtigt gelassen und hauptsĂ€chlich von der Philosophischen Ästhetik, Philologie und kunsthistorischen- bzw. kunstwissenschaftlichen Forschung bearbeitet worden ist – und letzteres zumeist abzĂŒglich einer dezidiert pĂ€dagogischen Perspektive. Da innerhalb der Publikation der Versuch unternommen wurde, all diese fachlichen ZugĂ€nge miteinzubeziehen, behĂ€lt diese Geschichte und speziell der abschließende Band eine interdisziplinĂ€re QualitĂ€t, die zwar oft behauptet und gefordert, aber doch zu selten umgesetzt wird. Als produktives Wagnis erweitert diese Geschichte gleichzeitig auch ihren Gegenstandsbereich. Damit liefert sie nicht nur eine Bearbeitung eines Forschungsdesiderates und stellt damit einen guten Überblick bereit, sie spricht zugleich damit auch die Einladung aus, sich dem Gegenstand zukĂŒnftig weiterhin explorativ zu widmen.

[1] Bilstein, J. & Zirfas, J. (2009). Bildung und Ästhetik. Eine Einleitung. In. J. Zirfas, L. Klepacki, J. Bilstein & E. Liebau (Hrsg.), Geschichte der Ästhetischen Bildung. Band 1: Antike und Mittelalter (S. 7-26). Paderborn: Ferdinand Schöningh.
Clemens Bach (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Clemens Bach: Rezension von: Zirfas, Jörg / Krebs, Moritz / Klepacki, Leopold / Burghardt, Daniel / Lohwasser, Diana / Napoles, Juliane Noack / Klepacki, Tanja (Hg.): Geschichte der Ästhetischen Bildung, . Band 4: Das 20. Jahrhundert. Paderborn: Brill/Schöningh 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350679129.html