EWR 17 (2018), Nr. 2 (März/April)

Maike Sophia Baader / Tatjana Freytag (Hrsg.)
Bildung und Ungleichheit in Deutschland
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2017
(536 S.; ISBN 978-3-658-14998-7; 69,99 EUR)
Bildung und Ungleichheit in Deutschland Wie die Herausgeberinnen im Vorwort darlegen, verfolgen sie mit dem Band das Ziel, „aufzuzeigen, wie multifaktoriell Bildungsungleichheit ist“ (VIII). Ausgehend von aktuell auch in Deutschland zunehmender Armut und damit einhergehenden Bildungsbenachteiligungen, denen der gleichzeitige Ausbau von international prestigeträchtigen Universitäten spannungsreich gegenüberstehe (VI), betrachten die Herausgeberinnen ihren Band auch als „Beitrag der Bildungsforschung zur aktuellen Rückkehr der Kategorie der sozialen Ungleichheit angesichts unübersehbarer gesellschaftlicher Abkopplungsprozesse“ (VIII). Im Fokus sollen entsprechend „Wirkungszusammenhänge zwischen Herkunft, Einkommen und Bildungschancen“ (VII) stehen.

Das Anliegen der Herausgeberinnen macht eine vielseitige Perspektivierung von Bildungsungleichheit erforderlich. Dieser Vielseitigkeit geben sie Struktur, indem sie die insgesamt 25 Beiträge ihres Bandes je einem von sechs thematischen Schwerpunkten zuordnen. Der allgemeine Schwerpunkt „Grundlagen und Rahmungen“ wird den anderen vorangestellt. Er enthält Beiträge von bspw. Dierckx, Miethe und Soremski, die empirisch gestützt die Relevanz gesellschaftlicher Gelegenheitsstrukturen für Bildungsaufstiege aufzeigen (15). Das Ergebnis ist bedenklich. Es verdeutlicht, wie sehr auch makrostrukturelle, kaum individuell beeinflussbare Phänomene latent das Bildungsverhalten beeinflussen können.

Der Beitrag von Klundt zeichnet sich besonders durch sein Plädoyer für die Notwendigkeit einer Klärung des Verständnisses von Bildung aus, das entsprechenden Studien zugrunde gelegt wird (50f.). Anhand anschaulicher Beispiele stellt der Autor die gängige Gleichsetzung von hohen Bildungsabschlüssen mit Bildung provokant infrage. Sein Text transportiert den Appell, Bildung humanistisch als allseitige Persönlichkeitsentfaltung zu betrachten, was in der Konsequenz auch den Blick Bildungsungleichheiten erweitert.

Hopf, der vor einer Verabschiedung vom Gleichheitsideal der Bildungschancen warnt, rahmt die Thematik des Bandes durch gerechtigkeitstheoretische Abwägungen zwischen den Paradigmen der Verteilungs-, Teilhabe- und Anerkennungsgerechtigkeit (34f.), die als verschiedene Perspektivierungszugänge die Komplexität der Thematik des Bandes noch einmal potenzieren. Die Stärke seines Beitrages besteht in seiner pro-egalitaristischen Argumentation. Spannend wäre eine Fortführung der Diskussion unter Einbezug aktueller Kritik am Chancengleichheitsbegriff und mit Blick auf die Frage, warum lediglich die Chancen auf Bildung für alle gleich sein sollten.

Die rahmenden Beiträge deuten zusammengenommen die Spannweite unterschiedlicher Blickwinkel auf (Bildungs-)Ungleichheiten und ihre gesellschaftlichen Verwobenheiten an. Ihnen folgen Beiträge, die den spezielleren thematischen Schwerpunktsetzungen der Betrachtung von sozialen Ungleichheiten in den Kontexten „Familie – Kindheit“ (Bühler-Niederberger & Türkyilmaz; Andresen; Grundwald; Schutter & Schweda-Möller), „Schule“ (Cloos; Klomfaß; Berkemeyer & Meißner; Moldenhauer; Thole, Milbradt & Simon), „Hochschule“ (Domke; Lörz; Baader & Korff) sowie „Außerschulische Bildung und Weiterbildung“ (Deppe; Graßhoff; Robak; Iller) zugeordnet sind und schließlich in einem sechsten Abschnitt „Durchkreuzungen – Durchquerungen“ Beiträge, die Zusammenhänge zwischen sozialen Ungleichheiten und anderen Differenzaspekten wie Behinderung (Rohrmann & Weinbach), Migration (Hummrich), Geschlecht (Böhringer) oder der Ausdifferenzierung des sekundären und tertiären Bildungssektors (Walgenbach) veranschaulichen, womit laut den Herausgeberinnen perspektivische Engführungen auf jeweils einzelne Teilbereiche des Bildungssystems überwunden (VII) und ein „Anstoß [...] zur Weiterentwicklung“ (ebd.) gegeben werden sollen. Sie betonen die Notwendigkeit von Transdisziplinarität (ebd.), die sich in ihrem Band in den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen der Autorinnen und Autoren zeigt.

Der Anspruch des Bandes spiegelt sich aber nicht nur in seiner thematisch vielseitigen und komplexen Struktur. Auch die Inhalte der spezielleren Beiträge verweisen im Ganzen betrachtet auf die Multifaktorialität von Bildungsungleichheiten und ihrer Betrachtungsweisen. Die Spannweite, die der Band eröffnet, wird folgend anhand von Beiträgen veranschaulicht, die exemplarisch für unterschiedliche, wissenschaftstheoretische Verortungen und empirische Zugänge stehen.

Zu einer aus teilhabetheoretischer Perspektive besonders brisanten Aussage kommen Rohrmann und Weinbach, die kritisch auf das spannungsreiche Dilemma der Förderung von Kindern mit Behinderung aufmerksam machen. Sie stellen fest, dass die besondere Förderung dieser Kinder, die auf deren Bildungsteilhabe ziele, zugleich die Teilhabe am Bildungsort erschwere oder gar beeinträchtige. Das treffe auch auf „sonderpädagogische Förderung im Rahmen gemeinsamen Lernens“ (464) zu. Der Beitrag regt an, auch neue Praktiken im Rahmen von Inklusion kritisch zu betrachten. Eine Verknüpfung des differenzierten Bildungsverständnisses der Autoren mit teilhabetheoretischen Grundlagen wäre aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive spannend.

Mit dem Zusammenhang zwischen Schulkultur und Milieu befasst sich Moldenhauer und nimmt die Anerkennungs- und Partizipationsordnungen von zwei Gemeinschaftsschulen ausgehend von den Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler in den Blick. Der Beitrag zeigt anschaulich, inwiefern sich auch innerhalb dieser Schulform, die sich dem Auftrag des Abbaus von Bildungsungleichheiten verschrieben hat, in den einzelnen Schulen Passungsverhältnisse zwischen dem jeweils dominierenden Milieu der Schülerinnen und Schüler und der Schulkultur herausbilden, die sich zugleich in den handlungsleitenden Orientierungen der Schülerinnen und Schüler spiegeln. Das Irritation stiftende Ergebnis verweist damit auf die Grenzen von Veränderungen im Mesosystem und zieht die Frage nach Möglichkeiten der Ableitung von Konsequenzen für die schulpraktische oder Lehrerbildungsebene nach sich.

Zu einem überraschend positiven Ergebnis kommen Baader und Korff, die sich aus quantitativer wie qualitativer Perspektive mit Ungleichheiten in Promotionsprogrammen befassen. Sie stellen fest, dass „die stark strukturierten Programme [...] eine Tendenz auf[weisen], Ungleichheiten bezogen auf Geschlecht, auf soziale Herkunft [...] und Migrationshintergrund zu reduzieren“ (362). Ihre Fokussetzung auf die Verteilung von Zugangs- und Qualifikationschancen lässt ein latent verteilungstheoretisches Denken erkennen.

Durch eine besondere Neuartigkeit des Zugangs zum Thema zeichnen sich bspw. die Beiträge von Klomfaß sowie von Thole, Simon und Milbradt aus. Während Klomfaß zwei Formen der neu entstehenden Sekundarschulen anschaulich auf in ihnen stattfindende „Cooling-out-Prozess[e]“ (218) untersucht und kritisch die spannende Frage nach der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse trotz eines sich wandelnden Bildungssystems aufwirft, analysieren Thole et al. die Thematisierung von u.a. Armut in Schulbüchern angehender Erzieherinnen und Erzieher. Sie kommen zu dem kritischen Schluss einer De-Thematisierung gesellschaftlicher Herstellungspraxen. Der Beitrag lässt sich auch als sensibilisierender Auftrag an angehende Lehrpersonen lesen, Schulbücher notwendig und kritisch zu ergänzen.

Der Band wird insgesamt dem Anspruch der Herausgeberinnen, Bildungsungleichheit multifaktoriell zu beleuchten, voll und ganz gerecht. Die Vielfalt der Forschungszugänge, theoretisch-paradigmatischen Verortungen und Themen sowie die Berücksichtigung auch neuester Entwicklungen im Bildungswesen und bisher in diesem Zusammenhang wenig beachteter Faktoren (Alleinerziehende, Zugänge zu Weiterbildungsmöglichkeiten, ...) versprechen dem Leser bzw. der Leserin neue, vielfältige Forschungs- und Diskussionsimpulse und sprechen in dieser Offenheit einen breiten Adressatenkreis an.

Die eingangs beschriebene Forderung Klundts, im Zuge der Thematisierung von Bildungsungleichheiten den jeweiligen Bildungsbegriff zu klären und Bildung insbesondere auch als Prozess der (Persönlichkeits-)Entwicklung zu betrachten, darf noch stärker berücksichtigt werden. Letztgenanntes Bildungsverständnis findet sich bspw. in dem Beitrag Deppes, die außerschulische Bildungsprozesse in Familie und Peergroup in ihrem Zusammenhang mit Schulerfolg thematisiert. Der Blick auf Bildung als Prozess des einzelnen, sich entwickelnden Menschen, steht dem Begriff „Bildungsferne“, so wie er bspw. bei Schutter und Schweda-Möller zu finden ist, konträr gegenüber und würde in seiner empirischen Erfassung die teilweise widerstreitenden Positionen innerhalb des Bandes abrunden.
Kathrin te Poel (Bielefeld)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kathrin te Poel: Rezension von: Baader, Maike Sophia / Freytag, Tatjana (Hg.): Bildung und Ungleichheit in Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 2 (Veröffentlicht am 09.05.2018), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365814998.html