
Das Buch folgt einem klar strukturierten Aufbau. Dabei setzt es sich nach einem einleitenden Problemaufriss, in dem die Forschungsfragen samt deren Entstehungskontext und Relevanz erlĂ€utert werden, zunĂ€chst mit den grundlegenden Begriffen der Untersuchung â Bildungs(un)gerechtigkeit, soziale Herkunft und lehrer:innenhabituelle Passung â auseinander. Der Fokus liegt dabei zum einen auf der verbindenden Auseinandersetzung mit Bildung, Gerechtigkeit, Gerechtigkeitstheorien im Schulkontext und bildungspolitischen Schlagwörtern sowie der darauf basierenden Herleitung von Bildungs(un)gerechtigkeit als erziehungswissenschaftlichem Begriff und zum anderen auf sozialer Herkunft als HeterogenitĂ€tsdimension im Kontext von Kapital und Habitus. In der Diskussion wird die Vielschichtigkeit des PhĂ€nomens deutlich, seine unterschiedlichen (oft normativ geprĂ€gten) Bedeutungen im pĂ€dagogischen, politischen und gesellschaftlichen Diskurs werden aufgezeigt. Auch wenn dieser Teil des Buches das Ziel verfolgt, âOrdnung in den jeweiligen gegenstandstheoretischen Diskurs zu bringen und alle miteinander zu verknĂŒpfenâ (13), bleiben die umfangreichen, vielfĂ€ltige Perspektiven aufgreifenden AusfĂŒhrungen trotz der grundsĂ€tzlich klaren und verstĂ€ndlichen Darstellung naturgemÀà komplex. Daher wirkt die ĂŒberblicksartige Zusammenfassung der diskutierten Kernbegriffe am Ende der AusfĂŒhrungen nicht redundant, sondern im Gegenteil hilfreich fĂŒr die Orientierung und trĂ€gt zur Leser:innenfreundlichkeit des Buches bei.
Im nĂ€chsten Kapitel werden methodologisch-methodische Entscheidungen erlĂ€utert und das Forschungsprojekt entsprechend eingeordnet â vom qualitativen Forschungsansatz ĂŒber die Wahl der leitfadengestĂŒtzten Expert:inneninterviews mit integrierten Vignetten (n=16) zur Datenerhebung bis zur Datenauswertung mittels der Dokumentarischen Methode. Die Autorin begrĂŒndet ihre Wahl dabei sehr fundiert und macht den Prozess der Entwicklung des aufwĂ€ndigen Forschungsdesigns, das eine Vorstudie mit offenen Fragebögen und deren inhaltsanalytischen Auswertung als Basis fĂŒr die Erstellung passender Vignetten beinhaltet, transparent. Sie beschreibt sowohl Erhebungsinstrumente als auch Auswertungsmethode im Detail. Im online verfĂŒgbaren Anhang sind darĂŒber hinaus weitere Informationen wie Interviewleitfaden mit Vignetten, Ăbersicht ĂŒber das Sample oder eine exemplarische Fallzusammenfassung zu finden, anhand derer der Forschungsprozess gut nachvollzogen werden kann. Graalmann argumentiert klar, inwiefern sich das gewĂ€hlte Forschungsdesign fĂŒr eine tiefgehende Analyse eignet, um darauf basierend implizite Orientierungsmuster, die pĂ€dagogische Praktiken der Lehrpersonen oft unbewusst prĂ€gen, zu rekonstruieren.
AnschlieĂend werden als Ergebnisse der Untersuchung vier âTypen von Lehrer:innenorientierungen auf Bildungs(un-)gerechtigkeit in Bezug auf soziale Herkunft von SchĂŒler:innenâ (161) sehr detailreich vorgestellt (auch hier sind angesichts des Umfangs der AusfĂŒhrungen zur Bewahrung der Ăbersicht und Fokussierung die ĂŒberblicksartigen Zusammenfassungen jedes Typs am Ende der Unterkapitel hilfreich): Der Wissenschaftsorientierte Typ, der Gerechtigkeit primĂ€r als abstraktes, wissenschaftliches Konzept betrachtet und die eigene Rolle vor allem in der Vermittlung fachlicher Inhalte sieht; der SchĂŒler:innenorientierte Typ, der Bildungsgerechtigkeit als zentrale Aufgabe des Lehrberufs wahrnimmt und sich in seinem pĂ€dagogischen Handeln aktiv fĂŒr Chancengleichheit einsetzt; der Stressorientierte Typ, der Bildungs(un-)gerechtigkeit als zusĂ€tzlichen Stress- und Belastungsfaktor im Berufsalltag wahrnimmt, was eine Herausforderung, die ĂŒber die eigentlichen Anforderungen hinausgeht, darstellt; und der Grenzorientierte Typ, der Ungerechtigkeiten anerkennt, die strukturellen Bedingungen aber als kaum verĂ€nderbar sieht und sich pragmatisch darauf beschrĂ€nkt, nur in begrenzten Bereichen VerĂ€nderungen vorzunehmen, um mögliche Belastungen zu vermeiden. Die differenzierten ErlĂ€uterungen zu den Orientierungstypen legen die Basis fĂŒr ein besseres VerstĂ€ndnis der sehr unterschiedlichen berufspraktischen ZugĂ€nge von Lehrpersonen zum Thema Bildungs(un)gerechtigkeit.
Im nĂ€chsten Kapitel werden ausgewĂ€hlte Ergebnisse zu den inhaltlichen Schwerpunkten Belastung, Berufswahlweg, Schulform sowie Bildungs(un-)gerechtigkeit weiterfĂŒhrend diskutiert. Dabei wird jedes Thema auf Basis der Untersuchung fokussiert erörtert, die Ergebnisse mit dem aktuellen wissenschaftlichen Kontext verknĂŒpft und Implikationen fĂŒr Lehrer:innenbildung, Politik und Bildungsforschung abgeleitet.
Im Kapitel zu methodologisch-methodischen Reflexionen wird transparent auf Limitationen und kritische Aspekte der Studie eingegangen â sowohl auf solche, die grundsĂ€tzlich durch die Methodenwahl bedingt sind, als auch auf jene, die aufgrund der forschungspraktischen Umsetzung durch die Autorin entstanden sein können (wie mögliche EinflĂŒsse durch die Rekrutierung der Befragten, Entwicklung des Interviewerinnenverhaltens im Laufe der Erhebung etc.). Es wird auf Verbesserungspotenziale verwiesen und Alternativen zum Forschungsdesign sowie mögliche Anschlussforschungen â beispielsweise durch einen ergĂ€nzenden ethnografischen Zugang â werden besprochen.
Die abschlieĂenden Gedanken im letzten Kapitel greifen wesentliche Aspekte noch einmal fokussiert auf und bieten eine resĂŒmierende, strukturierte Zusammenschau der zentralen Erkenntnisse und Schlussfolgerungen, beispielsweise in ersten AnsĂ€tzen fĂŒr Implikationen fĂŒr die Lehrer:innenbildung.
âRekonstruktion von Bildungs(ung-)gerechtigkeit â Begriffliche und berufspraktische Aushandlungen von Gesamtschul- und Gymnasiallehrer*innenâ ist eine sehr lesenswerte LektĂŒre, insbesondere fĂŒr Forschende, die an Bildungssoziologie, SchulpĂ€dagogik und der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen interessiert sind. Das Buch bietet aber auch interessante Einblicke fĂŒr bildungspolitische Akteur:innen, Lehrpersonen und Schulentwickler:innen, die sich mit der Thematik auseinandersetzen (wollen). Dass Bildungs(un)gerechtigkeit im multiperspektivischen Zugang sowohl in den theoretischen als auch empirischen Auseinandersetzungen âein schwer zu durchdringendes Konstruktâ (393) bleibt, auch wenn durchaus âOrdnung in den Diskurs gebracht werden konnteâ (394), merkt die Autorin dabei selbst in ihrem ResĂŒmee an. Dies schmĂ€lert aber weder die QualitĂ€t der theoretischen Auseinandersetzung noch die spannenden Einblicke, welche die tiefgehende empirische Untersuchung ermöglicht, insbesondere bezĂŒglich der unterschiedlichen handlungsleitenden Orientierungen von Lehrpersonen und der damit verbundenen sehr unterschiedlich ausgeprĂ€gten Bereitschaft zur VerantwortungsĂŒbernahme fĂŒr die Reduktion von Bildungsungerechtigkeit.