EWR 21 (2022), Nr. 1 (Januar)

Roberto Simanowski
Digitale Revolution und Bildung
FĂŒr eine zukunftsfĂ€hige Medienkompetenz
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021
(102 S.; ISBN 978-3-7799-6511-4; 16,95 EUR)
Digitale Revolution und Bildung Der publizistisch erfolgreiche und auch im englischen Sprachraum aktive, promovierte Literatur- und habilitierte Medienwissenschaftler hat im Anschluss an sein mit dem Tractatus-Preis fĂŒr philosophische Essayistik 2020 ausgezeichnetes Buch ĂŒber KĂŒnstliche Intelligenz [1] nun auch ein weiteres kleines Buch vorgelegt, das sich im Kontext von Digitalisierung und Medienbildung verortet und daher auch fĂŒr die Erziehungswissenschaft mit ihren Schwerpunkten MedienpĂ€dagogik und Bildungsphilosophie empfiehlt. Der Untertitel lĂ€sst bereits vermuten, was der Klappentext dann prĂ€zisiert: dass es sich dabei um einen Essay und Appell handelt, der angesichts der aktuellen Digitalisierungs-Gemengelage – Corona eingeschlossen – fĂŒr ein bestimmtes Modell von Medienbildung votiert, nĂ€mlich die „hier beworbene [sic!] kriminalpolizeiliche Ausrichtung der Medienbildung“ in ErgĂ€nzung zur „verkehrspolizeiliche[n]“ (82f.).

Bereits diese Begriffswahl deutet an, dass dieses Modell kaum einem der disziplinĂ€r verhandelten Medienbildungskonzepte entstammen kann. Entsprechend richtet der Autor seine sieben mit Stichworten ĂŒberschriebenen Kapitel samt Vor- und Nachwort offenbar auch nicht in erster Linie an das mit der Wahl des Verlags angedeutete Zielpublikum, sondern an die breitere Öffentlichkeit des bildungspolitisch interessierten Diskurses. Deutlich wird das u.a. in der Verwendung von Formeln wie „Bildung an sich“ (90) oder dadurch, dass vor allem (bildungs-)politische Dokumente und Verlautbarungen, Pressemitteilungen, Zeitungsartikel und Medienberichte etc. aufgenommen werden, wĂ€hrend einschlĂ€gige medienpĂ€dagogische Literatur abseits von digital bzw. im World Wide Web verfĂŒgbaren Quellen kaum in Anschlag gebracht wird. Es zeigt sich aber auch im schwĂ€chsten fĂŒnften, mit „Mordkommission“ ĂŒberschriebenen Kapitel des Buches, in dem der Autor seine Vorstellung eines von filmisch inszenierten digitalen Bedrohungsszenarien ausgehenden Unterrichts entwirft und dabei im Wesentlichen ĂŒber einleitende Fragen nicht hinauskommt – ohne Referenz auf die bspw. in didaktischen Konzepten oder der Filmbildungsforschung verhandelten Probleme, dafĂŒr aber versehen mit gutgemeinten RatschlĂ€gen: „Man muss als Lehrerin die BĂ€lle solcher Film- und Textvorlagen nur richtig auffangen und schon hat man die SchĂŒler verwickelt in eine komplexe Diskussion zur Digitalisierung“ (64). Dass sein PlĂ€doyer fĂŒr „einen prinzipiellen Richtungswechsel in der Bildungspolitik“ (96) damit auf die individuelle Unterrichtspraxis der schulischen „Medienbildung [
] oder Zukunftsbildung“ (95) abgewĂ€lzt wird, scheint dem Autor nicht aufzufallen. Erwartungen an eine systematische, an Begriffsbildung ausgerichtete Erörterung der Herausforderungen fĂŒr die Medienbildung unter Bedingungen der DigitalitĂ€t wird die Abhandlung also enttĂ€uschen. Stattdessen finden sich die Forderungen von bildungspolitisch aktiven pĂ€dagogischen Akteuren wieder: bspw. die auf der re:publika-Konferenz von der Amadeu Antonio Stiftung erhobenen – und sicherlich berechtigten – Forderungen nach „StĂ€rkung einer demokratischen Zivilgesellschaft“ und ihrer „KritikfĂ€higkeit“ und „AmbiguitĂ€tstoleranz“ (21). An anderer Stelle wird das Kompetenzmodell des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung fĂŒr Globale UmweltverĂ€nderungen affirmativ referiert (91f.).

Dabei teilt der Essay durchaus die gĂ€ngige medienpĂ€dagogische Kritik an der Fokussierung der bildungspolitischen Programme auf bloße Mediennutzungskompetenzen, d.h. auf „handlungsorientiertes Nutzungs- beziehungsweise zweckrationales VerfĂŒgungswissen“ (15).

Simanowskis Metapher der ‚verkehrspolizeilichen‘ Medienbildung, die sich bspw. auf die unterschiedlichen ‚FĂŒhrerscheine‘ fĂŒr Umgangsregeln im Digitalen bezieht oder auf den politischen Primat der technischen Ausstattung von Schulen (ohne dabei allerdings entsprechende medienpĂ€dagogische Konzepte oder Zielvorstellungen mitzudenken), ist hier durchaus erhellend, weil sie zu luziden Pointierungen seiner Kritik fĂŒhrt (Kapitel 1). Auch die von ihm gesehene „Entmachtung der Bildungsexperten durch systemfremde Spezialisten“ (32), die in erster Linie ökonomischen Interessen verpflichtet sind und nicht pĂ€dagogischen oder gesellschaftlichen, lĂ€sst sich mit dem seit langem gefĂŒhrten Diskurs ĂŒber die Ökonomisierung der Bildungsinstitutionen verschrĂ€nken (Kapitel 2). Wichtige Kritikpunkte bspw. an der „Rundumvermessung der biologischen und mentalen Prozesse des Lernens“ (33) werden dagegen nur angerissen, und das ist angesichts des Buchtitels dann doch erstaunlich. Im vorliegenden Essay will der Autor aber eher auf die gesellschaftlichen und ethischen Implikationen der beiden gegeneinander profilierten Medienbildungskonzepte aufmerksam machen. Er betont daher die postpolitischen und parasitĂ€ren Konsequenzen des auf den „homo oeconomicus“ ausgerichteten neoliberalen, ‚verkehrspolizeilichen‘ Modells gegenĂŒber den „sich aktiv an der Regierung ihres Gemeinwesens“ (86) beteiligenden „digital citizen“ einer auf „Reflexion der gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung“ (16) zielenden ‚kriminalpolizeilichen‘ Medienbildung, die den „homo politicus“ meint (v.a. Kapitel 7). Interessant kann in diesem Zusammenhang sein interdisziplinĂ€rer RĂŒckgriff auf Ă€ltere philosophische AnsĂ€tze (z.B. auf die „Ethik der Fernverantwortung“ von Hans Jonas) oder auf medienphilosophische KernsĂ€tze Marshall McLuhans sein, die gegen gesellschaftlich riskante „Bedenkenlosigkeit, Profitstreben und SchnĂ€ppchenmentalitĂ€t“ (47) der „Californian Ideology“ (88) ins Feld gefĂŒhrt werden (Kapitel 3).

Wie so hĂ€ufig ist die StĂ€rke des Buches deshalb letztlich auch seine große SchwĂ€che: Es geht dem Autor um das Entfalten eines PlĂ€doyers fĂŒr eine ‚nicht-funktionalistische‘, ‚kritisch-reflexive Medienbildung‘ und gegen die bildungspolitischen EntwĂŒrfe einer ‚digitalen Bildung‘ entlang von Metaphern, und weniger um deren begrifflich-theoretische BegrĂŒndung. Nicht zufĂ€llig hĂ€lt er deshalb wohl auch „die kĂŒnstlerische Thematisierung der digitalen Medien“, die „Medienbildung am Bildschirm“ (61) – analog zur „Tatort“-Krimireihe – fĂŒr das adĂ€quate Medium der Auseinandersetzung mit ihnen (ohne einschlĂ€gige Verweise [2]). Aufschlussreich in diesem Zusammenhang sind wohl vor allem Simanowskis Sichtung und virtuose Verarbeitung des öffentlichen Diskurses und der darin vertretenen (u.a. pĂ€dagogischen) Positionen durch politische und ökonomische Akteure der vergangenen Jahre (Kapitel 4) [3]. So anschlussfĂ€hig und unterhaltsam das Buch dadurch fĂŒr den öffentlichen Diskurs wird (und so verdienstvoll und nötig dies ist), so wenig Tiefe gewinnt es abseits von inspirierenden Hinweisen auf die verhandelten Kernfragen und SpannungsverhĂ€ltnisse damit fĂŒr den disziplinĂ€ren Diskurs des medien- und allgemeinpĂ€dagogischen wissenschaftlichen Publikums. Die scharfsinnige Pointierung, eine große StĂ€rke seiner LektĂŒren, geht hier in verkĂŒrzenden Überspitzungen verloren.

Das vorliegende Buch kann vor allem als ‚Kurzfassung‘ der in Ă€hnlichem Stil gehaltenen, bereits 2018 vorgelegten 300-seitigen Publikation gelten [4]. Konziser ist allerdings die detailreiche und erhellende Veröffentlichung von 2008 [5]. Darin wird DigitalitĂ€t zwar ‚nur‘ im Rahmen von interaktiv angelegten Kunstprojekten verhandelt, jedoch gelingt das Schreiben im Schnittfeld von Popkultur, Kunst- und Medienwissenschaft [6] in der AusfĂŒhrlichkeit besser und bringt die Breite der unterschiedlichen digitalen PhĂ€nomene (u.a. ErlebensintensitĂ€ten zwischen Ethik und Ästhetik; SelbstprĂ€sentation zwischen Exhibitionismus, AnonymitĂ€t und Überwachung; Virtualisierung bzw. Semiotisierung der Körperlichkeit) in ihren Ambivalenzen in den Blick. Man merkt dieser Ă€lteren Publikation, neben dem ĂŒberspitzenden öffentlichkeitskommunikativen und normativen, das wissenschaftliche Interesse deutlicher an und liest hier die philosophischen und vor allem soziologischen Rahmungen weitgehend mit Gewinn.

[1] vgl. Simanowski, R.(2020) Todesalgorithmus. Das Dilemma der kĂŒnstlichen Intelligenz. Wien: Passagen Verlag. Die dort verhandelten Fragen lĂ€sst er im Kapitel 6 des vorliegenden Buches noch einmal anklingen.
[2] vgl. Niesyto, H. (2006) (Hrsg.) Film kreativ. Aktuelle BeitrĂ€ge zur Filmbildung. MĂŒnchen: Kopaed.
[3] HierfĂŒr lĂ€sst sich aber auch sein Beitrag in der Reihe „Essay und Diskurs“ des DLF nachhören, wo Teile des Buches anschaulich und medial ansprechend verarbeitet sind: https://www.deutschlandfunk.de/komplizen-der-digitalisierung-pandemie-und-digitale.1184.de.html?dram:article_id=495218 (Zugriff: 18.08.2021).
[4] Simanowski, R. (2018) Stumme Medien. Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz.
[5] Simanowski, R. (2008) Digitale Medien in der Erlebnisgesellschaft: Kultur – Kunst – Utopien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
[6] An dieser Schnittstelle siedelt sich auch das 1999 vom Autor gegrĂŒndete, deutsch-englische und halbjĂ€hrlich online erscheinende Journal „Dichtung Digital“ an (URL: http://www.dichtung-digital.de).
Sabrina Schenk (Frankfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabrina Schenk: Rezension von: Simanowski, Roberto: Digitale Revolution und Bildung, FĂŒr eine zukunftsfĂ€hige Medienkompetenz. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377996511-1.html