EWR 24 (2025), Nr. 2 (April)

Regine MĂŒller
ProfessionalitÀt im Wohlfahrtsstaat
Praxeologische Perspektiven auf den Umgang mit Kinderarmut in der Sozialen Arbeit
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023
(336 S.; ISBN 978-3-7799-7668-4; 48,00 EUR)
ProfessionalitĂ€t im Wohlfahrtsstaat Zur Professionalisierung (in) der Sozialen Arbeit werden aktuell sowohl in theoretischen als auch empirischen Hinwendungen Neuausrichtungen eingefordert. Darunter finden sich BemĂŒhungen, professionelles Handeln stĂ€rker mit Blick auf gesellschaftsstrukturelle Aspekte zu diskutieren (z.B. soziale Normen, Sehmer 2025 [1], Armut resp. soziale Ungleichheiten, Simon 2023 [2], Demokratie, Oehler 2018 [3] oder EthnizitĂ€t, Kuhn 2013 [4]). Zudem wird die in den Begriffen rund um ‚ProfessionalitĂ€t‘ angelegte NormativitĂ€t dahingehend kritisiert, dass Potenziale fĂŒr Forschungen limitiert werden können. In Publikationen, wie den vorangehend angefĂŒhrten, wird die Gefahr gesehen, dass eine rein evaluative BeschĂ€ftigung mit Fragen des alltĂ€glichen Handelns von FachkrĂ€ften motiviert wird.

An diesen Diagnosen knĂŒpft die vorliegende Studie, die zugleich die Dissertationspublikation der Autorin ist, an. Die Frage, „‘inwiefern’ und ‘wie’ im Umgang mit der Programmatik Kinderarmut ‘ProfessionalitĂ€t in der Sozialen Arbeit hergestellt wird’“ (11, Hervorh. i. O. kursiv), steht dabei im Mittelpunkt. Diese Ausrichtung macht deutlich, dass das wohlfahrtsstaatliche Arrangement der Sozialen Arbeit in der Herstellung von ProfessionalitĂ€t einbezogen werden soll. Der Frage soll empirisch ĂŒber die Rekonstruktion von Gruppendiskussionen mit Netzwerkkoordinierenden im Bereich Kinderarmut nachgegangen werden.

Mit der praxeologischen Wissenssoziologie geht die Autorin von „‘einem gemeinsamen Erlebniszusammenhang’ professioneller FachkrĂ€fte“ (11, Hervorh. i. O. kursiv) aus. Damit konkretisiert sie die Frage darauf, „inwiefern und wie wohlfahrtstaatliche Programmatiken als Teil der Sozialpolitik in Form von Orientierungsproblemen in der Handlungspraxis professioneller Akteur*innen auftaucht, in welcher Art und Weise auf diese Bezug genommen wird und auf welche Weise in diesem Umgang ProfessionalitĂ€t hergestellt wird“ (13). Die Auseinandersetzung mit Kinderarmut stellt somit primĂ€r ein analytisches ‚Vehikel‘ dar, durch das die Hervorbringung wohlfahrtsstaatlicher Programmatiken unter Fragen von ProfessionalitĂ€t untersucht werden könne (13).

Die neun Kapitel sind nach der Einleitung in drei Abschnitte gegliedert und folgen ĂŒbersichtlich gestaltet dem Forschungsprozess der praxeologischen Wissenssoziologie respektive der dokumentarischen Methode der Interpretation. Im ersten Abschnitt werden Grundlegungen und forschungsleitende Analyseperspektiven entfaltet (Kap. 2 bis 4), im zweiten Abschnitt Rekonstruktionen hergeleitet und insbesondere typologisch verdichtet (Kap. 5 bis 7) und im letzten Abschnitt (Kap. 8 und -9) werden die Befunde methodologisch fokussiert diskutiert.

Die Auseinandersetzung mit Wohlfahrtsstaatlichkeit und ProfessionalitĂ€t (Kap. 2) erfolgt ĂŒber eine Differenzierung von „Außen- und Innenperspektive“ (16), d.h. es geht einerseits um die Verortung Sozialer Arbeit im Wohlfahrtsstaat und andererseits um disziplinĂ€re Diskurse zur VerhĂ€ltnisbestimmung von Sozialer Arbeit und Gesellschaft resp. Wohlfahrtsstaat. In diesen Kapiteln (2 und 3) sind die AusfĂŒhrungen sehr verdichtet und schlaglichtartig, fĂŒr diejenigen, die die Diskurse kennen, jedoch nachvollziehbar dargestellt. Dies zeigt sich etwa, wenn in legitimatorischer Absicht der praxeologischen Ausrichtung auf ProfessionalitĂ€t (zu) ĂŒberspitzt bilanziert wird, dass „sowohl der professionstheoretische (
) als auch der disziplinĂ€re (
) Diskurs der Sozialen Arbeit als heuristische Folie zur Rekonstruktion von ProfessionalitĂ€t ‘nicht’ geeignet [seien], da (
) beide (
) von normativen PrĂ€missen geprĂ€gt sind und dazu fĂŒhren, ProfessionalitĂ€t in der Sozialen Arbeit ‘deduktiv’ zu (re-)konstruieren“ (46, Hervorh. i. O. kursiv).

Über die Begriffe Wissen, Reflexion und Gesellschaft wird eine BrĂŒcke geschlagen zur PrĂ€zisierung des Untersuchungsgegenstandes (Kap. 3). Darauf erfolgt eine umfassende und anspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem Forschungsansatz, der – und das ist ein erstes Ergebnis – durch eine „wohlfahrtsstaatliche Programmatik“ (78) erweitert wird. Diese Mehrebenen-Heuristik im Anschluss an professionalisierte (sich professionalisierende) Milieus bei Bohnsack ist besonders spannend, weil ausgearbeitet wird, in welcher Weise Adressierungen wohlfahrtsstaatlicher Programmatiken sowohl bezogen auf die FachkrĂ€fte als auch auf Adressat*innen empirisch berĂŒcksichtigt werden können. Die wohlfahrtsstaatliche Programmatik wird fĂŒr Regine MĂŒller als Normen und Erwartungen im professionellen Handeln virulent (73). Innerhalb der konstituierenden Rahmung können sich daher „auf habitueller Ebene Subjektfiguren in Form unterschiedlicher Modi der InverhĂ€ltnissetzung zwischen Aneignungs- und PassungsverhĂ€ltnissen zeigen“ (76).

Das HerzstĂŒck der Studie findet sich in den Falldarstellungen (Kap. 5) und ihrer Typenbildung (Kap. 6). Hier kommt – trotz steigender KomplexitĂ€t metatheoretischer Auseinandersetzungen in der praxeologischen Wissenssoziologie – das empirische Material nicht zu kurz. Acht Gruppendiskussionen werden in die Auswertung einbezogen. Beteiligt sind sowohl zwischen zwei und fĂŒnf „Professionelle der Sozialen Arbeit als auch andere berufliche AkteurInnen (
) in der Sozialen Arbeit“ (86), die tĂ€tig sind im „professionellen Handlungsfeld (..) der Netzwerkkoordination zum Thema Kinderarmut“ (77). Insgesamt waren 37 Personen aus 32 Kommunen/kreisfreien StĂ€dten einbezogen (86). Leider wird zum Kontext der wohlfahrtsstaatlichen Programmatiken zu Kinderarmut in den Kommunen ĂŒberhaupt keine Information gegeben. Der Eingangsimpuls ist offengehalten: „Was fĂ€llt Ihnen ein, wenn Sie an Kinderarmut denken?“ (88) Den methodisch sorgfĂ€ltig ausgewĂ€hlten Diskussionspassagen wird genug Raum gegeben, so dass diese Einblicke in die Deutungs- und Handlungspraxis bieten und ermöglichen, Rekonstruktionen in den Falldarstellungen und die sinngenetisch gebildeten Typen (Kap. 6) nachzuvollziehen. DafĂŒr hilfreich sind die im Anhang befindlichen Materialien zur Datenerhebung. Die von ihr herausgearbeiteten Typen benennt die Autorin als „Herstellung verteilungs- und wertaffirmativer NormalitĂ€t im Wohlfahrtsstaat“ (Typ I), „Vergewisserung eines ungelösten, staatlichen Versorgungs- und Produktionskonfliktes“ (Typ II) und „Stabilisierung der Hegemonie gehobener Mittelklassemilieus“ (Typ III; siehe Übersicht 182-183). Diese drei Typen werden ĂŒber die drei heuristisch angelegten Ebenen (Mikro-, Meso-, Makroebene) weiter ausdifferenziert. In Kapitel 7 erfolgen weitere analytische Auseinandersetzungen (soziogenetische Interpretation und Korrespondenzanalyse) und im dritten Teil (Kap. 8 und 9) eine gegenstandstheoretisch und methodologisch interessierte Diskussion der Ergebnisse mit einem knappen – auf die praxeologische Wissenssoziologie zugeschnittenen – Ausblick.

Was kann abschließend festgehalten werden? Anhand der vorliegenden Forschungsarbeit lĂ€sst sich wunderbar studieren, wie ein metatheoretischer – hier: praxeologischer – Analyserahmen entwickelt und auf ein konkretes Vorhaben bezogen wird. Empfehlen wĂŒrde ich Lesenden, bei der Typologie zu starten und von da aus einzelnen FĂ€llen zu folgen; und dies eher Fortgeschrittenen oder denjenigen, die sich tiefer mit der praxeologischen Wissenssoziologie auseinandersetzen möchten. Die empirischen Befunde seien dabei nicht nur qualitativ-rekonstruktiv und ungleichheitstheoretisch Forschenden ans Herz gelegt.

Übergreifend fĂ€llt die eng gesteckte Grenzziehung der Arbeit auf, die sich in ihrer Anlage ausdrĂŒcklich in der praxeologischen Wissenssoziologie verortet, dabei jedoch fast ausschließlich auf interne Diskurse rekurriert und kaum angrenzende Diskurse zur Kenntnis nimmt. In der Arbeit selbst werden mit Bezug auf Nohl selbstkritische EinwĂŒrfe aufgegriffen, die eine „‘UnterkomplexitĂ€t’ in der AnschlussfĂ€higkeit an Begrifflichkeiten anderer ĂŒbergreifender Paradigmata“ (306, Hervorh. i. O. kursiv) zu bedenken geben. Dies lĂ€sst sich auf die vorliegende Studie ĂŒbertragen. Besonders auffĂ€llig ist, dass sich zahlreiche AnschlĂŒsse an erziehungswissenschaftliche und sozialpĂ€dagogische Arbeiten anbieten, die spannende VerknĂŒpfungen zugelassen hĂ€tten: Neben den Befunden selbst und der eingangs skizzierten professionalitĂ€tstheoretischen Kritik trifft dies bspw. auch auf die Hervorbringung von Wohlfahrtsstaatlichkeit durch sozialpĂ€dagogische FachkrĂ€fte zu oder auf die Auseinandersetzungen mit VernetzungsauftrĂ€gen (z.B. 77). Die empirischen und theoretisierten Erkenntnisse können den erziehungswissenschaftlichen resp. sozialpĂ€dagogischen Diskurs folglich nur bereichern, so dass sich hoffen lĂ€sst, dass entsprechende RĂŒckbindungen in Zukunft noch erfolgen.

[1] Sehmer, J. (2025). SozialpÀdagogische Subjekt- und Adressierungspraktiken. Ein Ansatz zur Konturierung der ethisch-normativen Ordnungen sozialpÀdagogischer Praxen. Springer VS.
[2] Simon, S. (2023). Armut, Bildung und Soziale Ungleichheiten. Deutungen und Bedeutungen im Feld der PĂ€dagogik der Kindheit. Springer VS.
[3] Oehler, P. (2018). Demokratie und Soziale Arbeit. Entwicklungslinien und Konturen demokratischer ProfessionalitÀt. Springer VS.
[4] Kuhn, M. (2013). ProfessionalitÀt im Kindergarten. Eine ethnografische Studie zur ElementarpÀdagogik in der Migrationsgesellschaft. Springer VS.
Jessica Prigge (Kiel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jessica Prigge: Rezension von: MĂŒller, Regine: ProfessionalitĂ€t im Wohlfahrtsstaat, Praxeologische Perspektiven auf den Umgang mit Kinderarmut in der Sozialen Arbeit. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023. In: EWR 24 (2025), Nr. 2 (Veröffentlicht am 29.04.2025), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377997668.html