EWR 24 (2025), Nr. 2 (April)

Patricia Baquero Torres / Mai-Anh Boger / Charlotte Chadderton / Lalitha Chamakalayil / Susanne Spieker / Anke Wischmann
Jahrbuch für Pädagogik 2023
Rassismuskritik und (Post)Kolonialismus
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2024
(299 S.; ISBN 978-3-7799-7712-4; 42,00 EUR)
Jahrbuch für Pädagogik 2023 Rassismus als strukturelles Problem in der Pädagogik und Bildungspolitik ist das zentrale Thema des Jahrbuchs. Vor dem Hintergrund aktueller Diskurse zu Rassismus und Kolonialismus trägt es fundiert zur differenzierten Reflexion rassistischer Mechanismen und Erfahrungen im deutschsprachigen Raum bei.

Das Jahrbuch gliedert sich in vier thematische Abschnitte: Auf ein Editorial der Herausgeber:innen folgen jeweils fünf Beiträge zu (Post)Kolonialismus (1) sowie zu Rassismuskritik und -theorie (2), im Abschnitt Voices (3) beleuchten drei Beiträge Erfahrungen aus pädagogischer Praxis und Wissenschaft, bevor im Abschnitt Erfolg – Bildung trotz Rassismus (4) drei Beiträge die Darstellung von Erfolgen rassifizierter Personen als Erfolgsgeschichten kritisch reflektieren. Abgeschlossen wird das Jahrbuch mit einem Aufsatz zu Race Riot als historischem Begriff, zwei Rückblicken auf 30 Jahre Jahrbuch für Pädagogik und erziehungswissenschaftliche Kontroversen der 1980er und 1990er Jahre sowie vier Rezensionen.

Auf diesen über 280 Seiten wird eine strukturierte und differenzierte Auseinandersetzung mit Rassismus und (Post)Kolonialismus auf verschiedenen Ebenen geführt. Besonders hervorzuheben ist der Einbezug von Perspektiven, die sich mit Herausforderungen im Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht, Hindernissen und Chancen sowie mehrfachen Diskriminierungsmechanismen beschäftigen. Darüber hinaus bieten die einzelnen Beiträge kritische und praxisrelevante Perspektiven auf theoretische Konzepte.

Im Folgenden werden die vier Kapitel näher vorgestellt und dafür thematische Schwerpunkte gesetzt: Im ersten Kapitel werden Wirkzusammenhänge von (post-)kolonialen und rassistischen Übertragungen von Wissen in Lernkontexte dekonstruiert. Hellmanzik analysiert stereotypisierende und rassistische Darstellungen in Geschichtsbüchern, Waburg und Sterzenbach thematisieren diese im Kontext von Brettspielen und der Beitrag von Kesper-Biermann und Kleiner am Beispiel des Lernorts Museum. Die Beiträge kritisieren aus rassismuskritischer Perspektive u.a. die Darstellungsweisen von unterdrückten und marginalisierten Personen in verschiedenen Medien. Denn ohne eine kritische Auseinandersetzung werden Rassismen nicht nur reproduziert, sondern diese marginalisierenden Perspektiven und Haltungen auch an nachfolgende Generationen weitergegeben. Die Beiträge regen zu der weiterführenden Frage an, wie sich rassifizierende Darstellungen in wissensvermittelnden Medien auf die Entwicklung der Selbst- und Fremdbilder von Kindern und Jugendlichen auswirken, die in von eben diesen Marginalisierungen geprägten Lernkontexten aufwachsen und (aus)gebildet werden.

Das zweite Kapitel „Rassismuskritik und Theorie“ umfasst Beiträge, die sich kritisch mit inzwischen gut etablierten Theorien und Terminologien zu Rassismus auseinandersetzen. So diskutieren beispielsweise Akbaba und Wagner, wie rassismuskritische Diskussionen in Bildungssettings geführt werden können und welche Bedeutung kollektives Wissen über gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse und rassistische Strukturen hat. Die Autor:innen argumentieren, dass ein höheres Maß an „Postmigrationsgesellschaftlicher Kompetenz“ (125) die Möglichkeit bietet, Abwehrmechanismen gegenüber rassismuskritischen Reflexionen zu überwinden und eine Transformation der weißen Vorherrschaft in Lehr- und Bildungsveranstaltungen zu fördern. Diese These stellt eine bedeutende Erweiterung des Diskurses dar, da sie nicht nur die individuelle, sondern auch die kollektive Dimension von Bildungsprozessen berücksichtigt. Akbaba und Wagner regen weitere empirische Untersuchungen an, die klären könnten, wie diese ‚Postmigrationsgesellschaftliche Kompetenz‘ in unterschiedlichen Bildungskontexten konkret gefördert werden kann.

Die unzureichende Berücksichtigung von rassismuskritischen Perspektiven in Schultheorien und in der Lehrer*innenbildung erörtern Doğmuş und Geier. Sie plädieren für eine systematische Integration des Begriffs ‚race‘ und eine rassismuskritische Revision etablierter schulpädagogischer Theorien, insbesondere des strukturfunktionalistischen Ansatzes. Der Beitrag verdeutlicht die Notwendigkeit, rassistische Strukturen in der Schule als solche zu erkennen und sie in der schulpädagogischen Forschung und Praxis systematisch zu adressieren. Offen bleibt jedoch die Frage, wie eine solche Perspektive konkret im Schulalltag verankert werden kann, da ihre Umsetzung selbst wiederum an strukturellen und institutionellen Barrieren scheitern kann.

Wegner thematisiert die Ausrichtung der politischen Erwachsenenbildung in Deutschland, die zunehmend auf die Qualifizierung für den Arbeitsmarkt ausgerichtet sei. Wegner plädiert für eine Rückbesinnung auf die ursprünglichen Ziele der politischen Bildung, bei denen auch das kritische Hinterfragen von Machtstrukturen und die Förderung gesellschaftlicher Teilhabe im Mittelpunkt stehen. Der Vorschlag, postkoloniale Theorien mit der „Tradition der Arbeiterbewegung“ (156) zu verbinden, ist ein innovativer Ansatz, um bestehende Machtverhältnisse in der Erwachsenenbildung zu hinterfragen und alternative Bildungsräume zu schaffen. Wegner argumentiert, „dass zentrale Anliegen der Arbeiterbewegung […] noch immer nicht realisiert worden“ (156) seien. So seien die „Stigmatisierung von Menschen in Arbeitslosigkeit, die Abwertung ganzer Berufszweige oder Gläserne Decke im Bildungswesen und bei politischer Mitbestimmung […] noch immer wirkmächtig“ (156). Allerdings bleibt fraglich, wie eine solche Verbindung in der Praxis umgesetzt werden kann und inwieweit sie die bestehenden institutionellen Rahmenbedingungen herausfordert.

Das dritte Kapitel „Voices“ fokussiert u.a. die Eröffnung von Möglichkeitsräumen im Kontext von Empowerment. Während es in den vorangegangenen Kapiteln eher um die Dekonstruktion rassistischer Strukturen im Kontext von Bildung und Erziehung ging, stehen hier Maßnahmen zur Ermächtigung marginalisierter Gruppen im Vordergrund. Larbi-Niazy untersucht hier beispielsweise einen Poetry-Slam-Workshop als Instrument zur Stärkung von rassismuskritischer Mädchenarbeit. Ihre Analyse zeigt auf, dass Bildung als Form des Widerstands und als Mittel zur Selbstermächtigung genutzt werden kann. Besonders wertvoll erscheint dieser Ansatz in Verbindung mit einer dekolonisierten Bildungspolitik und -praxis. Die Reflexion struktureller Herausforderungen, insbesondere im Hinblick auf die Nachhaltigkeit solcher Empowerment-Ansätze, könnte jedoch noch vertieft werden.

Olivos Beitrag weist auf die Notwendigkeit hin, queere Bildung nicht nur als Intervention gegen Diskriminierung zu verstehen, sondern als Prozess der kritischen Reflexion gesellschaftlicher Normen und Machtverhältnissen. Queere Bildung vermittle eine „spezifische Vorstellung von Moral“, die dichotome Normalitätsvorstellungen von „Gut und Böse“ (181) aufbreche. Hier wird deutlich, dass Bildungsansätze, die sich ausschließlich an Idealen orientieren, den realen Herausforderungen in der Arbeit mit marginalisierten Gruppen nicht immer gerecht werden. Die Dekonstruktion von Marginalisierungen geschieht häufig von außen. Echte Teilhabe bedeutet jedoch, mit ihnen statt über sie zu sprechen, zu forschen und gemeinsam neue Perspektiven zu entwickeln.

Die Beiträge im vierten Kapitel befassen sich u.a. mit Biografien und Erfolgsgeschichten trotz Ungleichheitsverhältnissen und marginalisierenden Strukturen. Sie thematisieren daraus entstehende Herausforderungen, wie den Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit in einem linguizistischen Schulsystem und die hieraus entstehenden Bildungsbenachteiligung von Schüler:innen, und erörtern diese gleichsam aus einer rassismuskritischen Perspektive. Insbesondere die Verfestigung von Diskriminierungen in bildungstheoretisch relevanten Strukturen und Institutionen wird kritisiert. Köttgen und Vicencio plädieren daher für eine Transformation der Schule „als koloniale Institution“ (238). Der Fokus liegt dabei auf der Dekonstruktion von widersprüchlichen Verhältnissen, die sich aus den paternalistischen und postkolonialen Strukturen ergeben. Im Kontext von Fluchtmigration diskutieren Friedrich und Rosen „White Fragility“ (DiAngelo 2011) im Verhältnis von Ehrenamtlichen und Asylsuchenden. Jording, Messerschmidt und Yeşil befassen sich mit Defizitzuschreibungen und Erfolgserzählungen im Kontext postkolonialer und rassistischer Narrative, die sich aus der Hegemonie der sog. Mehrheitsgesellschaft ergeben. Die Relevanz bildungsbiografischer Zugänge für die Dekonstruktion von Wirkungszusammenhängen im Kontext von Rassismus in der postkolonialen Migrationsgesellschaft wird in diesem Kapitel erneut deutlich.

Die Beiträge zeigen auf, wie tief rassistische und koloniale Strukturen im Bildungssystem verwurzelt sind und welche spezifischen Herausforderungen sie für migrantisierte und rassifizierte Personen mit sich bringen. Sie machen deutlich, dass es notwendig ist, diese Strukturen zu hinterfragen und eine umfassende Transformation anzustreben, um Diskriminierung und Bildungsbenachteiligung nachhaltig zu überwinden.

Insgesamt stellt der Sammelband eine wertvolle Erweiterung des aktuellen Diskurses zu politischer Bildung und Rassismuskritik dar, da er theoretische Reflexionen mit praxisorientierten Ansätzen in intersektionalen Zusammenhängen verbindet. Die Beiträge regen zu einer mehrdimensionalen kritischen Auseinandersetzung mit bestehenden Machtstrukturen an und bieten Perspektiven auf Bildungsinnovationen, die eine gerechtere und inklusivere Gesellschaft fördern könnten. Die Publikation ist insbesondere für Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen in der politischen Bildung, der Pädagogik sowie der Sozialen Arbeit von Bedeutung. Eine weitere Diskussion über die Umsetzung dieser Konzepte in unterschiedlichen Bildungskontexten bleibt jedoch notwendig, um die Potenziale und Grenzen der vorgeschlagenen Ansätze vollständig zu verstehen.
Hosay Adina-Safi und Aybike Savaç (Universität Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hosay Adina-Safi und Aybike Savaç: Rezension von: Torres, Patricia Baquero / Boger, Mai-Anh / Chadderton, Charlotte / Chamakalayil, Lalitha / Spieker, Susanne / Wischmann, Anke: Jahrbuch für Pädagogik 2023, Rassismuskritik und (Post)Kolonialismus. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2024. In: EWR 24 (2025), Nr. 2 (Veröffentlicht am 29.04.2025), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377997712.html