EWR 24 (2025), Nr. 2 (April)

Stefan Danner
Wissenschaftstheorien und sozialwissenschaftliche Denkstile
Eine EinfĂŒhrung
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2025
(132 S.; ISBN 978-3-7799-8983-7; 20,00 EUR)
Wissenschaftstheorien und sozialwissenschaftliche Denkstile Stefan Danner möchte mit seinem kompakten Buch von knapp 120 Seiten Fließtext eine EinfĂŒhrung in Wissenschaftstheorien sowie wissenschaftliche Denkstile aus einer primĂ€r sozialwissenschaftlichen Perspektive geben. Die Arbeit soll damit dem (in der Einleitung lediglich behaupteten und nicht belegten) Umstand entgegenwirken, dass wissenschaftstheoretische EinfĂŒhrungen bisher primĂ€r aus philosophischer und naturwissenschaftlicher Perspektive geschrieben worden seien [1]. Das Konzept wird dabei gleich in der Einleitung klar dargelegt und schlĂŒssig argumentiert: Danner legt eine „Collage“ (10) vor, in der die Autor:innen aus den verschiedenen Richtungen selbst möglichst viel durch direkte Zitate zu Wort kommen. Danner meint, dass damit erreicht werden soll, dass 1. der sich in der Sprache der Autor:innen ausdrĂŒckende Sprachstil nicht verfremdet wird, 2. die PrĂ€gnanz und Pointiertheit der ausgewĂ€hlten Zitate beibehalten wird und 3. verhindert wird, dass Danners „Interpretationen die ursprĂŒnglichen Gedanken ĂŒberwuchern“ (10). Durch die collageartige Auswahl soll eine Herauslösung der Gedanken aus dem ursprĂŒnglichen Gesamtwerk erfolgen, wodurch sich neue Bedeutungen ergeben wĂŒrden. Nach einem ersten, spontanen Blick könnte man diesen Ansatz als willkĂŒrlich und eklektisch bezeichnen. Damit wird man aber der Darstellung nicht ganz gerecht. Danner webt nĂ€mlich die Perspektiven in ein gedankliches GerĂŒst ein, das sich auf die wissenschaftsanalytischen Ideen Ludwik Flecks bezieht, die er gleich im ersten Kapitel nach der Einleitung ausfĂŒhrlich darstellt.

Mit den Konzepten von ‚Denkkollektiv‘ und ‚Denkstil‘ arbeitet Danner in Kapitel 2 in Anlehnung an Fleck heraus, dass bestimmte Arten zu denken – und zwar auch in enger Verbindung zur Sprache – soziale Akte sind, die kleine oder grĂ¶ĂŸere Gruppen von Menschen nicht nur praktizieren, sondern potenziell auch weitergeben können. Wissenschaftliche Denkstile können bestimmte Strukturen in den Vordergrund rĂŒcken, die von in einem bestimmten Denkstil sozialisierten Wissenschafter:innen erkannt und sprachlich vermittelt werden. Der Aufbau dieser Denkstile hat eine gewisse Vorlaufzeit und auch eine „Beharrungstendenz“ (25), wobei WidersprĂŒche oder Konflikte dazu fĂŒhren können, dass sich neue Denkstile entwickeln. Danner bezeichnet die Fleck’sche Sichtweise als einen ‚Blick zweiter Ordnung‘, also einen „Blick auf die Blickausrichtungen in der Wissenschaftspraxis“ (12), und an eben jener wĂŒrde sich auch die Struktur seines Buches orientieren. Danner geht es darum, „den Zusammenhang zwischen Wissenschaftstheorien einerseits und sozialwissenschaftlichen Denkstilen andererseits zu beleuchten“ (27). Diese Verbindung zu den theoretischen Gedanken Flecks erscheint einleuchtend und stellt ein GerĂŒst des Buches dar, das Leser:innen eine gute Orientierung im Werk ermöglichen kann und das Danner im gesamten Verlauf des Buches auch einhĂ€lt.

In den Kapiteln 3 und 4 legt Danner wissenschaftstheoretische Grundideen von Platon (Kap. 3) und Aristoteles (Kap. 4) primĂ€r ĂŒber Zitate aus der SekundĂ€rliteratur dar und (vorerst) ohne konkrete BezĂŒge zu sozialwissenschaftlichem Denken.

Von Kapitel 4 auf Kapitel 5 vollzieht er, wie er selbst meint, einen „großen zeitlichen Sprung hin zum 17. Jahrhundert“ (38), den er damit begrĂŒndet, dass die Philosophie von Platon und Aristoteles lange prĂ€gend fĂŒr wissenschaftliches Denken gewesen sei, was sich erst durch Francis Bacon (Kap. 5) Ă€ndern sollte. In diesem Zusammenhang lĂ€sst sich diskutieren, inwieweit nicht auch mittelalterliche wissenschaftstheoretische UmbrĂŒche und Neuerungen einer BerĂŒcksichtigung wert gewesen wĂ€ren, nicht zuletzt, weil einige Autor:innen gerade im 12. und 13. Jahrhundert eine „intellektuelle Revolution“ [2] verorten. Der Umstand dieses zeitlichen Sprungs mag jedoch der Kompaktheit des Bandes geschuldet sein. In Kapitel 5 erörtert Danner, inwiefern sich Francis Bacon vom aristotelischen Deduktivismus abgrenzt und wie sich seine wissenschaftstheoretischen Neuerungen auch im 21. Jahrhundert noch zeigen, bspw. in der Dominanz des Experiments (50).

Nachdem die Kapitel zu Platon, Aristoteles und Bacon kaum explizit sozialwissenschaftliche BezĂŒge erkennen lassen, will Danner in Kapitel 6 dem Anspruch seines Buches gerecht werden und „der Frage nachgehen, inwiefern diese Konzepte ihre Spuren im Denkstil der Sozialwissenschaften hinterlassen haben“ (51). Dabei fokussiert er die Beziehung des Allgemeinen zum Besonderen und arbeitet heraus, dass selbst die qualitative Forschung, die von EinzelphĂ€nomenen und -wahrnehmungen ausgeht, den Anspruch hat, daraus allgemeine Erkenntnisse zu entwickeln. Einige Beispiele fĂŒr Forschung, die er diskutiert, zeigen exemplarisch, wo die Betonung des Spezifischen vor dem Allgemeinen Platz gefunden hat.

Einen weiteren Umbruch wissenschaftlichen Denkens verortet Danner bei Galileo Galilei (Kap. 7). Sein mathematischer Denkstil sei nicht nur wesentlich fĂŒr die quantitative sozialwissenschaftliche Forschung, sondern auch fĂŒr die Ästhetik wissenschaftlicher Darstellung. Danner spricht hier von einer „Reinheit im Schreibstil“ (79–81) und dem „geometrischen Stil in sozialwissenschaftlichen Schaubildern“ (81–85). Der letzte Gedanke erscheint dabei besonders interessant und fĂŒr zukĂŒnftige Forschung Ă€ußerst vielversprechend: Danner argumentiert, dass eine Dominanz geometrischer Schaubilder fĂŒr sozialwissenschaftliche Erkenntnisse in Publikationen und VortrĂ€gen festzustellen sei. Diese sei problematisch, da die soziale RealitĂ€t „nur mĂ€ĂŸig geordnet“ und „nie symmetrisch“ (83) erscheine.

In Kapitel 8 zeichnet Danner die Entwicklung positivistischen Denkens im Anschluss an Comte und Mill nach und zeigt anschließend daran den Einfluss dieses Denkstils in den Sozialwissenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts sowie davon abweichende Konzeptionen auf.

Der kritische Rationalismus Poppers als Weiterentwicklung des Positivismus wird im nĂ€chsten Abschnitt (Kap. 9) dargestellt, wobei auch hier – wie in den vorangehenden Abschnitten – aktuelle sozialwissenschaftliche Forschung in Bezug dazu gesetzt wird.

Zwei eher kĂŒrzere Kapitel zu nicht thematisierten Hintergrundannahmen der Wissenschaften (Kap. 10) sowie zu gesellschaftlichen WidersprĂŒchen bzw. emanzipatorisch ausgerichteter Forschung (Kap. 11) schließen den Hauptteil der Arbeit ab.

Im letzten Kapitel mit dem Titel „Offenes Ende“ (125) weist Danner darauf hin, dass mit seiner Darstellung zahlreiche Fragen offenbleiben und die Kontexte der jeweiligen Autor:innen nicht umfassend behandelt werden konnten. Besonders aufschlussreich ist hier die Frage, welchen Vorteil heterogene Forschungsteams fĂŒr die Erweiterung wissenschaftstheoretischen Wissens und die Reflexion bislang unreflektierter Grundannahmen bieten können.

Folgt man Martin Carrier [3] und verortet die Wissenschaftstheorie „in einem Spektrum von Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftsgeschichte“, so stellt Danners Werk ein prototypisches Beispiel einer solchen Auseinandersetzung dar, indem auf Basis historischer Beispiele Elemente wissenschaftlicher Denkstile herausgearbeitet und in langen, direkten Zitaten sichtbar gemacht werden. Das Buch ist sprachlich klar und flĂŒssig geschrieben und wird dem Anspruch gerecht, sich an „Studierende und Dozierende in sozialwissenschaftlichen Bachelor- und MasterstudiengĂ€ngen“ (Klappentext) zu richten. Die collageartige Darstellung, die direkten Zitaten von Autor:innen aus PrimĂ€r- und SekundĂ€rliteratur den Vorzug gibt, ist in den meisten FĂ€llen ausreichend durch Kommentare und ErlĂ€uterungen ergĂ€nzt, sodass die Zitate nicht allzu sehr dem individuellen VerstĂ€ndnis und der Interpretation der Leser:innen ĂŒberlassen bleiben – ein Aspekt, der insbesondere fĂŒr Studierende in niedrigeren Semestern eine Herausforderung darstellen könnte. FĂŒr einen ersten Einblick in wissenschaftstheoretische Grundlagen sozialwissenschaftlicher Denkstile scheint das Werk also durchwegs sehr gut geeignet.

[1] Ein erster Beleg dafĂŒr findet sich in dem folgenden EinfĂŒhrungswerk bereits in der Einleitung, wenn der Autor davon schreibt, dass er sich „sowohl auf philosophischer als auch auf naturwissenschaftlicher Seite bemĂŒht habe, so wenig wie nur irgend möglich vorauszusetzen“ und dabei soziologische bzw. sozialwissenschaftliche AnsĂ€tze außen vorlĂ€sst. Siehe: Wiltsche, H. A. (2021). EinfĂŒhrung in die Wissenschaftstheorie (2., korrigierte Auflage). Vandenhoeck & Ruprecht.

[2] Matthias Lutz-Bachmann, Alexander Fidora und Pia A. Antolic (2004, VII) schreiben dazu: „Das 12. und 13. Jahrhundert verĂ€nderten die ĂŒberlieferte Wissenskultur der Gesellschaft des frĂŒhen lateinischen Mittelalters grundlegend. Denn in diesen zwei Jahrhunderten kam es nicht nur zu einer Neuformation der Schulen der höheren Bildung, zur NeubegrĂŒndung wissenschaftlicher Disziplinen und ihrer ZusammenfĂŒhrung in der UniversitĂ€t als einer neuartigen Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, sondern auch zur Entfaltung, zum Austausch und zur Weitergabe von neuem, wissenschaftlichem Wissen, womit sich Institutionen, Inhalte und Methoden der ĂŒberlieferten Wissenskultur gleichermaßen wandelten.“ In dem Zusammenhang sprechen sie auch von einer „intellektuellen Revolution“ (VII). Lutz-Bachmann, M., Fidora, A. & Antolic, P. A. (2004). Vorwort. In dies. (Hrsg.): Erkenntnis und Wissenschaft. Probleme der Epistemologie in der Philosophie des Mittelalters (Wissenskultur und Gesellschaftlicher Wandel, Bd. 10) (VII-VIII). Akademie Verlag.
[3] Carrier, M. (2006). Wissenschaftstheorie zur EinfĂŒhrung. Junius Verlag GmbH.
Alexander Hoffelner (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Alexander Hoffelner: Rezension von: Danner, Stefan: Wissenschaftstheorien und sozialwissenschaftliche Denkstile, Eine EinfĂŒhrung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2025. In: EWR 24 (2025), Nr. 2 (Veröffentlicht am 29.04.2025), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377998983.html