
Mit den Konzepten von âDenkkollektivâ und âDenkstilâ arbeitet Danner in Kapitel 2 in Anlehnung an Fleck heraus, dass bestimmte Arten zu denken â und zwar auch in enger Verbindung zur Sprache â soziale Akte sind, die kleine oder gröĂere Gruppen von Menschen nicht nur praktizieren, sondern potenziell auch weitergeben können. Wissenschaftliche Denkstile können bestimmte Strukturen in den Vordergrund rĂŒcken, die von in einem bestimmten Denkstil sozialisierten Wissenschafter:innen erkannt und sprachlich vermittelt werden. Der Aufbau dieser Denkstile hat eine gewisse Vorlaufzeit und auch eine âBeharrungstendenzâ (25), wobei WidersprĂŒche oder Konflikte dazu fĂŒhren können, dass sich neue Denkstile entwickeln. Danner bezeichnet die Fleckâsche Sichtweise als einen âBlick zweiter Ordnungâ, also einen âBlick auf die Blickausrichtungen in der Wissenschaftspraxisâ (12), und an eben jener wĂŒrde sich auch die Struktur seines Buches orientieren. Danner geht es darum, âden Zusammenhang zwischen Wissenschaftstheorien einerseits und sozialwissenschaftlichen Denkstilen andererseits zu beleuchtenâ (27). Diese Verbindung zu den theoretischen Gedanken Flecks erscheint einleuchtend und stellt ein GerĂŒst des Buches dar, das Leser:innen eine gute Orientierung im Werk ermöglichen kann und das Danner im gesamten Verlauf des Buches auch einhĂ€lt.
In den Kapiteln 3 und 4 legt Danner wissenschaftstheoretische Grundideen von Platon (Kap. 3) und Aristoteles (Kap. 4) primĂ€r ĂŒber Zitate aus der SekundĂ€rliteratur dar und (vorerst) ohne konkrete BezĂŒge zu sozialwissenschaftlichem Denken.
Von Kapitel 4 auf Kapitel 5 vollzieht er, wie er selbst meint, einen âgroĂen zeitlichen Sprung hin zum 17. Jahrhundertâ (38), den er damit begrĂŒndet, dass die Philosophie von Platon und Aristoteles lange prĂ€gend fĂŒr wissenschaftliches Denken gewesen sei, was sich erst durch Francis Bacon (Kap. 5) Ă€ndern sollte. In diesem Zusammenhang lĂ€sst sich diskutieren, inwieweit nicht auch mittelalterliche wissenschaftstheoretische UmbrĂŒche und Neuerungen einer BerĂŒcksichtigung wert gewesen wĂ€ren, nicht zuletzt, weil einige Autor:innen gerade im 12. und 13. Jahrhundert eine âintellektuelle Revolutionâ [2] verorten. Der Umstand dieses zeitlichen Sprungs mag jedoch der Kompaktheit des Bandes geschuldet sein. In Kapitel 5 erörtert Danner, inwiefern sich Francis Bacon vom aristotelischen Deduktivismus abgrenzt und wie sich seine wissenschaftstheoretischen Neuerungen auch im 21. Jahrhundert noch zeigen, bspw. in der Dominanz des Experiments (50).
Nachdem die Kapitel zu Platon, Aristoteles und Bacon kaum explizit sozialwissenschaftliche BezĂŒge erkennen lassen, will Danner in Kapitel 6 dem Anspruch seines Buches gerecht werden und âder Frage nachgehen, inwiefern diese Konzepte ihre Spuren im Denkstil der Sozialwissenschaften hinterlassen habenâ (51). Dabei fokussiert er die Beziehung des Allgemeinen zum Besonderen und arbeitet heraus, dass selbst die qualitative Forschung, die von EinzelphĂ€nomenen und -wahrnehmungen ausgeht, den Anspruch hat, daraus allgemeine Erkenntnisse zu entwickeln. Einige Beispiele fĂŒr Forschung, die er diskutiert, zeigen exemplarisch, wo die Betonung des Spezifischen vor dem Allgemeinen Platz gefunden hat.
Einen weiteren Umbruch wissenschaftlichen Denkens verortet Danner bei Galileo Galilei (Kap. 7). Sein mathematischer Denkstil sei nicht nur wesentlich fĂŒr die quantitative sozialwissenschaftliche Forschung, sondern auch fĂŒr die Ăsthetik wissenschaftlicher Darstellung. Danner spricht hier von einer âReinheit im Schreibstilâ (79â81) und dem âgeometrischen Stil in sozialwissenschaftlichen Schaubildernâ (81â85). Der letzte Gedanke erscheint dabei besonders interessant und fĂŒr zukĂŒnftige Forschung Ă€uĂerst vielversprechend: Danner argumentiert, dass eine Dominanz geometrischer Schaubilder fĂŒr sozialwissenschaftliche Erkenntnisse in Publikationen und VortrĂ€gen festzustellen sei. Diese sei problematisch, da die soziale RealitĂ€t ânur mĂ€Ăig geordnetâ und ânie symmetrischâ (83) erscheine.
In Kapitel 8 zeichnet Danner die Entwicklung positivistischen Denkens im Anschluss an Comte und Mill nach und zeigt anschlieĂend daran den Einfluss dieses Denkstils in den Sozialwissenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts sowie davon abweichende Konzeptionen auf.
Der kritische Rationalismus Poppers als Weiterentwicklung des Positivismus wird im nĂ€chsten Abschnitt (Kap. 9) dargestellt, wobei auch hier â wie in den vorangehenden Abschnitten â aktuelle sozialwissenschaftliche Forschung in Bezug dazu gesetzt wird.
Zwei eher kĂŒrzere Kapitel zu nicht thematisierten Hintergrundannahmen der Wissenschaften (Kap. 10) sowie zu gesellschaftlichen WidersprĂŒchen bzw. emanzipatorisch ausgerichteter Forschung (Kap. 11) schlieĂen den Hauptteil der Arbeit ab.
Im letzten Kapitel mit dem Titel âOffenes Endeâ (125) weist Danner darauf hin, dass mit seiner Darstellung zahlreiche Fragen offenbleiben und die Kontexte der jeweiligen Autor:innen nicht umfassend behandelt werden konnten. Besonders aufschlussreich ist hier die Frage, welchen Vorteil heterogene Forschungsteams fĂŒr die Erweiterung wissenschaftstheoretischen Wissens und die Reflexion bislang unreflektierter Grundannahmen bieten können.
Folgt man Martin Carrier [3] und verortet die Wissenschaftstheorie âin einem Spektrum von Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftsgeschichteâ, so stellt Danners Werk ein prototypisches Beispiel einer solchen Auseinandersetzung dar, indem auf Basis historischer Beispiele Elemente wissenschaftlicher Denkstile herausgearbeitet und in langen, direkten Zitaten sichtbar gemacht werden. Das Buch ist sprachlich klar und flĂŒssig geschrieben und wird dem Anspruch gerecht, sich an âStudierende und Dozierende in sozialwissenschaftlichen Bachelor- und MasterstudiengĂ€ngenâ (Klappentext) zu richten. Die collageartige Darstellung, die direkten Zitaten von Autor:innen aus PrimĂ€r- und SekundĂ€rliteratur den Vorzug gibt, ist in den meisten FĂ€llen ausreichend durch Kommentare und ErlĂ€uterungen ergĂ€nzt, sodass die Zitate nicht allzu sehr dem individuellen VerstĂ€ndnis und der Interpretation der Leser:innen ĂŒberlassen bleiben â ein Aspekt, der insbesondere fĂŒr Studierende in niedrigeren Semestern eine Herausforderung darstellen könnte. FĂŒr einen ersten Einblick in wissenschaftstheoretische Grundlagen sozialwissenschaftlicher Denkstile scheint das Werk also durchwegs sehr gut geeignet.
[1] Ein erster Beleg dafĂŒr findet sich in dem folgenden EinfĂŒhrungswerk bereits in der Einleitung, wenn der Autor davon schreibt, dass er sich âsowohl auf philosophischer als auch auf naturwissenschaftlicher Seite bemĂŒht habe, so wenig wie nur irgend möglich vorauszusetzenâ und dabei soziologische bzw. sozialwissenschaftliche AnsĂ€tze auĂen vorlĂ€sst. Siehe: Wiltsche, H. A. (2021). EinfĂŒhrung in die Wissenschaftstheorie (2., korrigierte Auflage). Vandenhoeck & Ruprecht.
[2] Matthias Lutz-Bachmann, Alexander Fidora und Pia A. Antolic (2004, VII) schreiben dazu: âDas 12. und 13. Jahrhundert verĂ€nderten die ĂŒberlieferte Wissenskultur der Gesellschaft des frĂŒhen lateinischen Mittelalters grundlegend. Denn in diesen zwei Jahrhunderten kam es nicht nur zu einer Neuformation der Schulen der höheren Bildung, zur NeubegrĂŒndung wissenschaftlicher Disziplinen und ihrer ZusammenfĂŒhrung in der UniversitĂ€t als einer neuartigen Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, sondern auch zur Entfaltung, zum Austausch und zur Weitergabe von neuem, wissenschaftlichem Wissen, womit sich Institutionen, Inhalte und Methoden der ĂŒberlieferten Wissenskultur gleichermaĂen wandelten.â In dem Zusammenhang sprechen sie auch von einer âintellektuellen Revolutionâ (VII). Lutz-Bachmann, M., Fidora, A. & Antolic, P. A. (2004). Vorwort. In dies. (Hrsg.): Erkenntnis und Wissenschaft. Probleme der Epistemologie in der Philosophie des Mittelalters (Wissenskultur und Gesellschaftlicher Wandel, Bd. 10) (VII-VIII). Akademie Verlag.
[3] Carrier, M. (2006). Wissenschaftstheorie zur EinfĂŒhrung. Junius Verlag GmbH.