EWR 12 (2013), Nr. 6 (November/Dezember)

Manja Plehn
Einschulung und Schulfähigkeit
Die Einschulungsempfehlung von ErzieherInnen – Rekonstruktionen subjektiver Theorien über Schulfähigkeit
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012
(190 S.; ISBN 978-3-7815-1883-4; 32,00 EUR)
Einschulung und Schulfähigkeit Die Diskussion um das Verständnis von Schulfähigkeit kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wurden das Konzept von Schulfähigkeit und entsprechende Implikationen für die Gestaltung des Schulanfangs national und international erforscht und diskutiert. In der internationalen Diskussion haben inzwischen Schulfähigkeitskonzepte an Bedeutung gewonnen, welche die Beziehung der beteiligten Systeme und ihre geteilte Verantwortung hinsichtlich der Schulfähigkeit des Kindes betonen. In diesem Zusammenhang sind auch die Reformierungsbestrebungen des Schulanfangs als Umsetzung eines veränderten Schulfähigkeitskonzeptes zu sehen, das die Verantwortung der Schule und ihre Kindfähigkeit betont. Doch wie stellt sich das Verständnis von Schulfähigkeit in der Praxis dar, insbesondere aus der Perspektive der Erzieherinnen, welche durch die Einschulungsberatung eine tragende Rolle im Übergang vom Kindergarten in die Schule übernehmen?

In der vorliegenden Veröffentlichung, die auf ihrer Dissertation basiert, geht Manja Plehn dieser zentralen Frage nach. Für sie waren folgende Forschungsfragen leitend: Wie bildet sich die Empfehlung von Erzieherinnen [1] zum Einschulungszeitpunkt von Kindern heraus? Wie sind die subjektiven Theorien von Erzieherinnen über Schulfähigkeit angelegt? Das Forschungsprojekt basierte auf einer Substichprobe des DFG-Forschungsprojektes „BiKS – Bildungsprozesse, Kompetenzentwicklung und Selektionsentscheidungen im Vorschul- und Schulalter“ an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.

Plehn führt mit dem referierten Forschungsstand zu den Themenkomplexen Elternberatung, Schulfähigkeit und subjektive Theorien zentrale Aspekte ihres Forschungsgegenstandes ein. Dabei stellt sie die hohe Bedeutung heraus, welche die Erzieherinnen der Elternberatung, vor allem hinsichtlich der Einschulungsempfehlung, beimessen. Zugleich verweist sie aber auf empirische Ergebnisse, welche die Verunsicherung von Erzieherinnen in Bezug auf Elternberatung herausstellen, vor allem dann, wenn eine positive Einschulungsempfehlung nicht eindeutig ist. In der Auseinandersetzung mit dem Thema Schulfähigkeit diskutiert sie die verschiedenen Schulfähigkeitskonzepte entlang der Spannungsfelder Kind und Umwelt sowie Schulfähigkeit und Kindfähigkeit. So zeichnet sie die zunehmende Verschiebung des Fokus‘ auf das Zusammenwirken der Systeme und die wachsende Bedeutung der Umwelt nach. Des Weiteren stellt sie empirische Ergebnisse vor, die eine besondere diagnostische Kompetenz der Erzieherinnen nachweisen. Gleichzeitig verweist sie auf Ergebnisse, die zeigen, dass der systematischen Beobachtung in deutschen Kindergärten bislang zu wenig Raum zugestanden wird.

Im Anschluss daran begründet Plehn die Entscheidung für das Konzept der subjektiven Theorien mittlerer Reichweite damit, dass es dies ermöglicht, „Funktionswissen“ (50) in Bezug auf Schulfähigkeit erfassen zu können. Die Untersuchung erfolgte auf der Grundlage von Leitfaden-Interviews. In einer ersten Erhebung wurden zehn Erzieherinnen zur Abwägung einer fristgerechteten versus frühzeitigen, in einer zweiten Erhebung wiederum zehn Erzieherinnen zur Abwägung einer fristgerechteten versus verspäteten Einschulung befragt.

Plehn beschreibt die Genese der Einschulungsempfehlung als Abwägungsprozess, in dem die antizipierten schulischen Erfordernisse mit der Einschätzung der kindlichen Entwicklung in Bezug gesetzt werden. Dabei wird in den Ergebnissen das hohe Verantwortungsgefühl der Erzieherinnen für einzelne Kinder deutlich und die Neigung, eher von einer Einschulung abzuraten, wenn der Abwägungsprozess eine Überforderung erwarten lässt. Der Kindergarten wird in diesem Zusammenhang eher als Schonraum für das Kind verhandelt. Mögliche negative Folgen, wie kumulierende Effekte durch eine Zurückstellung erscheinen dabei nicht relevant. Im Gegenteil, in der Auseinandersetzung mit pädagogischen Zielorientierungen der Erzieherinnen zum Schulerfolg zeigt sich vielmehr, dass in der Entscheidung für eine Zurückstellung eher eine Minimierung der Wahrscheinlichkeit zur Klassenwiederholung gesehen wird. In Hinblick auf die Antizipation schulischer Anforderungen zeigt sich gleichzeitig, dass sowohl die Neukonzeptualisierung des Schulanfangs (insbesondere die Flexibilisierung des Schulanfangs durch eine variable Verweildauer) als auch Kooperationsmöglichkeiten zwischen Fachkräften (Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen) Einfluss auf die Einschulungsempfehlungen nehmen. Ein Einblick in die Schule trägt bei den befragten Fachkräften mehrheitlich zu einer positiven Einschätzung der Schule und ihrer Kindfähigkeit bei und wirkt sich darüber auf die Einschulungsempfehlung aus. Bei der Erwägung einer frühzeitigen Einschulung, die meist auf die Initiative der Eltern zurückzuführen ist, kommt der Wahrnehmung der Familie und des familiären Unterstützungspotential eine kritische Rolle zu. Die Berufstätigkeit beider Eltern, das Familienmodell alleinerziehend sowie sozioökonomische Belastungsfaktoren der Familie wirken sich negativ auf die Einschulungsempfehlung der Erzieherinnen aus. Plehn gibt vor diesem Hintergrund zu bedenken, dass sich hier eine Verstärkung der sozialen Selektivität am Schulanfang zeigt, die wiederum mit dem Motiv der Erzieherinnen verbunden ist, das Kind schützen zu wollen.

Zu den subjektiven Theorien von Erzieherinnen über Schulfähigkeit zeichnet Plehn in der Darstellung der Ergebnisse nach, dass die Erzieherinnen ein ganzheitliches Entwicklungsverständnis bevorzugen. Damit wird der Aspekt der Ausgewogenheit, aber auch die gegenseitige Anregung der Entwicklungsbereiche hervorgehoben. Entsprechend der oben zusammengefassten Ergebnisse beziehen die Erzieherinnen für ihr Verständnis von Schulfähigkeit auch die schulischen Anforderungen als relevante Bedingung mit ein. Darüber hinaus beziehen sie sich auf förderliche Bedingungen in der Familie und im Kindergarten, die sie im Zusammenhang mit der Schulfähigkeit des Kindes sehen.

Im Rahmen der abschließenden Diskussion der Ergebnisse zeichnet Plehn die Konsequenzen eines kindzentrierten, kriterienorientierten und selektionsorientierten Schulfähigkeitsverständnisses für die Einschulungsempfehlung nach. Der zuvor skizzierte Abwägungsprozess schulischer Anforderungen und des kindlichen Entwicklungsstandes deutet zunächst ein Schulfähigkeitsverständnis an, welches die Beziehung zu Umweltfaktoren und die Verantwortung der Institutionen stärker betont. Dennoch, so resümiert Plehn, wird die Einschulungsempfehlung nach wie vor maßgebend auf der Grundlage des wahrgenommenen Entwicklungsstandes des Kindes, also kindbezogen, getroffen. Als wesentliches Motiv arbeitet sie dabei den „Schutz des Kindes“ (155) heraus.

Plehn ermöglicht mit ihrer Dissertation einen spannenden Einblick in Orientierungsmuster von Erzieherinnen angesichts einer Praxis, die durch ambivalente Bewegungen gekennzeichnet ist. In den Ergebnissen drücken sich nicht zuletzt Verhandlungsprozesse der Erzieherinnen in Bezug auf alte und neuere – inklusive – Strukturen der Gestaltung des Schulanfangs aus. So kann sie einerseits zeigen, dass die subjektiven Theorien noch durch ein kindbezogenes und selektionsorientiertes Verständnis von Schulfähigkeit geprägt sind. -Das selektionsorientierte Verständnis der Erzieherinnen kann dabei als Vorverlagerung der schulischen Selektionsorientierung gesehen werden. Der Selektionsdruck, der sich in dem von Plehn beschriebenen Abwägungsprozess zeigt, drückt sich auch in dem Motiv aus, dem Kind im Schonraum des Kindergartens Schutz zu bieten. Andererseits zeigen die Ergebnisse von Plehn auch die Veränderbarkeit dieses selektionsbetonten Blicks auf Schule, denn der Einblick in schulische Strukturen sowie der Austausch der Fachkräfte können die Einschulungsempfehlung der Erzieherinnen positiv beeinflussen. Erzieherinnen haben offenbar sehr genaue Vorstellungen davon, wie kindfähige – inklusive – Strukturen der Schule aussehen sollten. Damit geben sie auch Antwort auf die Frage, welche Erwartungen sie gegenüber der kindfähigen Gestaltung des Schulanfangs und der entsprechenden Weiterentwicklung schulischer Strukturen haben.


[1] Da Plehn der Fragestellung anhand der Befragung von ausschließlich weiblichem Personal nachgeht, entscheidet sie sich für eine weibliche Schreibweise. Dies wird, der Einheitlichkeit wegen, auch bei Bezugnahme auf Studien übernommen, die Plehn in Bezug auf den Forschungsstand referiert.
Antje Rothe (Hannover)
Zur Zitierweise der Rezension:
Antje Rothe: Rezension von: Plehn, Manja: Einschulung und Schulfähigkeit, Die Einschulungsempfehlung von ErzieherInnen – Rekonstruktionen subjektiver Theorien über Schulfähigkeit. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 6 (Veröffentlicht am 03.12.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151883.html