Das am 30. Oktober 1961 unterzeichnete „deutsch-türkische Anwerbeabkommen“ leitete einen epochalen Wandel der deutsch-türkischen Beziehungen und Geschichte ein. Er machte die Türken und die Türkei in den letzten Jahrzehnten (wieder) zu einem aktuellen Thema nicht nur für die Politik, sondern für alle Disziplinen der Gesellschaftswissenschaften. Verständlicherweise waren die im Zusammenhang mit der Zuwanderung von Millionen Türken stehenden aktuellen Herausforderungen vorrangige Themen der akademischen Diskussionen und Forschungen, gerade auch in der Erziehungswissenschaft. Darüber konnte leicht vergessen werden, dass Deutschland und die Türkei eine wechselvolle gemeinsame Geschichte haben, deren Kenntnis für ein vertieftes Verständnis des Verhältnisses von Deutschen und Türken unverzichtbar ist.
Dass die lange historische Beziehungsgeschichte Deutschlands und der Türkei auch für die Pädagogik und Bildungspolitik gilt und ihre Erforschung auch aktuell relevante Ergebnisse erbringen kann, beweist das hier zu besprechende Buch: Es versammelt Aufsätze von Autor:innen, die wissenschaftliche Mitarbeiter:innen oder auswärtige Kooperationspartner:innen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit 2017 geförderten Forschungsprojekts waren [1].Erste Ergebnisse des Forschungsprojekts waren u.a. schon in einer längeren Abhandlung im Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 2019 veröffentlicht worden [2].
Der Band enthält Aufsätze zu sehr unterschiedlichen Themen der deutschen und türkischen Beziehungs- und Bildungsgeschichte, die aber einen inneren Zusammenhang dadurch erhalten, dass sie auf Diskurse in relevanten Nachbardisziplinen der historischen Bildungsforschung bezogen werden können, die im Zuge der Internationalisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte zu einer Verschiebung der Perspektiven geführt haben. In der Geschichtswissenschaft, die lange von National- und Sozialgeschichte geprägt war, sind (wieder) internationale Beziehungen, Kolonialgeschichte, ja sogar Welt- und Globalgeschichten Themen der Forschung und entsprechender Veröffentlichungen. In der Soziologie wurde selbstkritisch realisiert, dass ihre Modelle unzulässigerweise auf einen „nationalen Container“ bezogen seien und dass Prozesse der Transnationalität und Transkulturalität als Folge von weltweiten Migrationsprozessen übersehen worden seien. In der international-vergleichenden Erziehungswissenschaft, die traditionell die Bildungssysteme und Reforminitiativen anderer Länder studiert und - im Idealfall - den Vergleich nationaler Bildungssysteme anstrebt, sind seit einiger Zeit Fragen des internationalen Kulturtransfers und der Kulturtransformation sowie die Entstehung von internationalen Netzwerken, z.B. von Expert:innen und Institutionen, ins Zentrum der Forschung gerückt. Es waren insbesondere historisch-vergleichende Studien, die diese Formen einer bisher wenig beachteten Internationalität herausgearbeitet haben. Die Einleitung von Ingrid Lohmann und Julika Böttcher geht auf Aspekte dieses interdisziplinären Diskurses und Perspektivwechsels ein und stellt die drei Gruppen von Beiträgen in dem Sammelband vor.
Im ersten Abschnitt gibt der Historiker Fikret Adanir eine erste Orientierung zu den historisch-politischen Konstellationen der deutsch-türkischen Beziehungsgeschichte und Ingrid Lohmann eine Einführung in das eigentümliche Gemisch aus ethnischen Stereotypen und kulturellen Überlegenheitsgefühlen, insbesondere aber in die Begründungsmuster für ein deutsches wirtschaftliches und kulturelles – „semikoloniales“ – Engagement in der Region, wie es in der deutschen Publizistik, auch in den pädagogischen Zeitschriften, vom 18. Jahrhundert bis zum 20. Jahrhundert gegenüber dem Osmanischen Reich und der Türkei in immer neuen Varianten wiederholt wurde. Julika Böttcher kann nachweisen, dass das osmanische Reich und die Türken auch in den regionalen Lehrerzeitungen Thema waren, allerdings nicht die Situation des dortigen Bildungswesens, sondern deutsche schulpolitische Initiativen, die als „deutsche Kulturmission im Orient“ verstanden und begründet wurden, insbesondere die Ansätze zur Gründung von deutschen Auslandsschulen in der Region. In ihrem (vorläufigen) Resümee bestätigt sie Befunde älterer Forschungen, wonach die meisten Beiträge in der pädagogischen Zeitschriftenliteratur der Zeit „das Ausland“ - hier die Türkei – nicht als Vergleichsobjekt oder Vorbild thematisieren, sondern „als Argument“ für die Rechtfertigung pädagogischer, schul- und kulturpolitischer Anliegen zu Hause benutzen.
Der zweite Abschnitt des Sammelbands enthält drei Beispiele einer Schulbuchanalyse unter der Fragestellung, in welchem Umfang, in welchen Kontexten und mit welchen Narrativen das osmanische Reich bzw. die Türkei in deutschen und schweizerischen Geschichtsbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts dargestellt wurde, und zwar am Beispiel einer im ganzen 19. Jahrhundert verbreiteten „Weltgeschichte für die katholische Jugend“ (Timm Gerd Hellmanzik), von drei deutschen Schulbuchreihen für den Geschichtsunterricht (Dennis Mathie) und von schweizerischen Geschichtslehrmitteln aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Andreas Hoffmann-Ocon, Norbert Grube): Die Analysen ergeben – mit Variationen und Akzentsetzungen – als durchgängigen Befund, dass für die Geschichte des osmanischen Reichs und die Türkei bestimmte Topoi und Narrative wiederholt wurden: die „Türkengefahr“, d.h. die Bedrohung des christlichen Abendlands durch das osmanische Reich, das „Türkenjoch“ und die „grausame türkische Herrschaft“, die z.B. den - in ganz Westeuropa begrüßten und unterstützten - griechischen Unabhängigkeitskrieg rechtfertigt, das Narrativ vom „kranke Mann am Bosporus“, mit dem der Verlust von Territorien des osmanischen Reichs charakterisiert wurde. Die inneren Reformen des osmanischen Reichs Mitte des 19. Jahrhunderts (Tanzimat) wurden nicht erwähnt und gewürdigt. Das Narrativ vom „Niedergang“ kehrt sich dann mit der „jungtürkische Revolution“, den Reformen der türkischen Republik und ihrer rigiden Nationalstaatspolitik um zu einer positiven Bewertung der neueren türkischen Geschichte als Prozess der „Europäisierung“ und der „Zivilisierung“.
Im dritten Teil des Bandes werden auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Gegenstände versammelt (z.B. auch ein Aufsatz über die Spannungen zwischen deutschen Forschungsreisenden und den ersten osmanischen Archäologen Ende des 19. Jahrhunderts an einem prominenten Beispiel von Sebastian Willert). Aber die drei Aufsätze von Filiz Meseci Giorgetti zu dem „deutsch-türkischen Austausch über Erziehung und Unterricht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, von Christine Meyer über „John Deweys Reise in die Türkei 1924“ und der Aufsatz von Christian Roith zu „Pädagogischen Modernisierungsstrategien“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts, allerdings in Spanien, ergeben zusammen einen wichtigen historisch-vergleichenden Forschungs- und Diskussionsbeitrag zu einem aktuellen wissenschaftlichen Diskurs. Hier geht es nicht mehr um die von politischen Schlagworten beherrschten Beziehungen zwischen Ländern und Kulturen, sondern um konkrete Strategien von Ländern wie der Türkei und Spanien, die Anfang des 20. Jahrhunderts bestrebt waren, eine Modernisierung ihrer Gesellschaften - und ihres Schulwesens - zu betreiben. In beiden Ländern wurde von den politischen Verantwortlichen die pragmatische - und schließlich erfolgreiche - Strategie gewählt, bewährte und engagierte Lehrer und „Schulmänner“ zu Ausbildungs- bzw. Studienzwecken u.a. auch nach Deutschland zu schicken. Nach ihrer Rückkehr machten sie sehr oft Karrieren in Leitungspositionen, als Experten und Multiplikatoren. Dass der Expertenaustausch auch gezielte politische Strategie mit diffuser und doch nachhaltiger Wirkung sein kann, zeigt das Beispiel der von amerikanischer Seite initiierten und finanzierten Reise von John Dewey in die Türkei und die Nachwirkungen seines Reports als Aspekt der internationalen Verbreitung reformpädagogischer Ideen in dieser Epoche. Christine Meyer entfaltet auf eindrückliche Weise, wie - über diesen historischen Fall hinausgehend und auf der Höhe des wissenschaftlichen Diskussionsstandes - heute die Frage des Kulturtransfers und der internationalen Verflechtung auf dem Gebiet der Bildungspolitik diskutiert werden müsste, gerade auch bezogen auf die deutsch-türkischen Beziehungen.
[1] Projekttitel „Das Wissen über Türken und die Türkei in der Pädagogik. Analyse des diskursiven Wandels 1839-1945“( Antragstellerin Prof. Dr. Ingrid Lohmann, Universität Hamburg).
[2] Lohmann, I., Böttcher, J. (2021). Türken- und Türkeibilder im 19. und 20. Jahrhundert. Pädagogik, Bildungspolitik, Kulturtransfer (S. 7-19). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
EWR 21 (2022), Nr. 1 (Januar)
Türken- und Türkeibilder im 19. und 20. Jahrhundert
Pädagogik, Bildungspolitik, Kulturtransfer
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021
(277 S.; ISBN 978-3-7815-2436-1; 18,90 EUR)
Bernd Zymek (Bochum)
Zur Zitierweise der Rezension:
Bernd Zymek: Rezension von: Lohmann, Ingrid / Böttcher, Julika: Türken- und Türkeibilder im 19. und 20. Jahrhundert, Pädagogik, Bildungspolitik, Kulturtransfer. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152436.html
Bernd Zymek: Rezension von: Lohmann, Ingrid / Böttcher, Julika: Türken- und Türkeibilder im 19. und 20. Jahrhundert, Pädagogik, Bildungspolitik, Kulturtransfer. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152436.html