EWR 24 (2025), Nr. 2 (April)

Timm Gerd Hellmanzik
Vom „Türkenjoch“ zu „Deutschlands Freundschaft für die Türkei“
Der Wandel des Wissens über das Osmanische Reich
in deutschen Geschichtsschulbüchern 1839‒1918
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023
(320 S.; ISBN 978-3-7815-2546-7; 39,90 EUR)
Vom „Türkenjoch“ zu „Deutschlands Freundschaft für die Türkei“ Wie werden „die Türken“ bzw. „die Osmanen“ [1] in historischen deutschen Geschichtsschulbüchern als „Andere“ konstruiert? Welches deutsche Selbstbild wird dabei entworfen? Und wie wandeln sich diese Wissensbestände im Laufe mehrerer Jahrzehnte? Timm Gerd Hellmanzik geht den drei Fragen in seiner Dissertationsschrift nach, die er an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg verteidigt und in der von Ingrid Lohmann et al. herausgegebenen Schriftenreihe „Wie die Türken in unsere Köpfe kamen. Eine deutsche Bildungsgeschichte“ veröffentlicht hat. Die Arbeit stellt einen wichtigen Beitrag zur Bildungsmedienforschung und der Historischen Bildungsforschung dar und berührt darüber hinaus Debatten aus der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung, der Nationalismusforschung und den Postkolonialen Studien.

Konkret handelt es sich um die Ergebnisse einer historischen Diskursanalyse (nach Achim Landwehr) von 115 Schulbüchern für höhere Schulen aus dem Zeitraum 1839‒1918, die im Rahmen eines erweiterten Korpus betrachtet werden. Flankierend zieht der Autor geschichtswissenschaftliche Texte, Reiseberichte und journalistische Beiträge hinzu, um den gesellschaftspolitischen Kontext zu beleuchten und mit den Schulbuchinhalten in Relation zu setzen. In den theoretischen Abschnitten des Buches befasst sich Hellmanzik kritisch mit dem Diskursbegriff Michel Foucaults, schlägt einen Bogen zur Postkolonialen Theorie und Edward W. Saids „Orientalismus“ und schärft schließlich seinen analytischen Blick auf den Untersuchungsgegenstand unter Bezugnahme auf Thomas Höhnes Wissens- und Medientheorie des Schulbuchs.

Nach einer allgemeineren Betrachtung der deutsch-osmanischen Beziehungen und deutscher Vorstellungen von der „Türkei“ sowie einer bildungshistorischen Kontextualisierung des Mediums Geschichtsschulbuch bildet das empirische vierte Kapitel das Herzstück des Buches. Die Argumentation ist entlang politischer Ereignisse mit großer Reichweite aufgebaut. In Zusammenhang mit dem Griechischen Unabhängigkeitskrieg etwa werden Schulbücher aus dem Zeitraum 1821‒1832 untersucht. Der Autor stellt fest, dass das Osmanische Reich und Griechenland insgesamt eine marginale Stellung in den Schulbüchern einnehmen (100). Gleichzeitig vermitteln die Lehrwerke einen „außerordentlichen Philhellenismus“ (104), sie zeichnen eine direkte Verbindung zwischen griechischer Antike und Gegenwart (107) und überhöhen die Rolle der deutschen Bildung für den Erhalt der alten griechischen Kultur (112). Ebenso überhöhen sie etwas später die Rolle von Otto I. als Vertreter von „Bildung und Zivilisation“ (129) in Griechenland. In diesen Schulbüchern gelten „Türken“ als Bildungsfeinde (111), grausame Krieger (114) und überhaupt Antagonisten, bis schließlich die „deutsche Ära“ in Griechenland endet und damit auch die Griechenland-freundlichen Schulbuchdarstellungen schwinden (132).

Zeitgleich sind erste Elemente eines Niedergangsnarrativs in Bezug auf das Osmanische Reich in den Schulbüchern identifizierbar, sie rücken aber erst im Kontext des zweiten Großereignisses, des Russisch-Türkischen Krieges (1877/78), in den Mittelpunkt. Hier „verdichtet sich die Vorstellung von Europa als einheitlicher Entität“ (125), während Russland als neuer Akteur einen bedeutenden wie ambivalenten Stellenwert in den Schulbüchern einnimmt. In Bezug auf die Rolle Deutschlands auf dem Berliner Kongress gelingt es den Lehrwerken, das eigene Land gleichzeitig als „Weltmacht“ (178) und als „uneigennützige[n], interessenlose[n]“ (180) Player darzustellen. Letzteres – konstatiert der Autor der Studie am Rande – reicht „zuweilen noch bis in die aktuelle Sekundärliteratur hinein“ (180).

Das dritte zentrale Ereignis ist der Erste Weltkrieg (1914–1918). Hier konstruieren die Schulbücher eine deutsch-türkische Annäherung, bisweilen Freundschaft, indem sie das Osmanische Reich nun insgesamt in ein würdigendes Licht stellen (223) oder die Revolution der Jungtürken als Ereignis von europäischem Format in der Tradition der Französischen Revolution (224) interpretieren. Auch hier fehlen realpolitische Hintergründe nicht, denn die Rehabilitierung der „Türkei“ in deutschen Lehrwerken fügt sich in den Kontext der kolonialpolitischen Konkurrenz Deutschlands zu England und Frankreich ein. Interessanterweise, so der Autor, sind die Schulbücher dadurch „nicht automatisch islamophil“ (243).

Gerade das Aufzeigen derartiger, vermeintlich widersprüchlicher Gleichzeitigkeiten zählt zu den großen Stärken der Analyse, die im letzten Abschnitt des empirischen Kapitels (251‒289) auch noch einmal übergreifende Diskursstränge in den Blick nimmt. Insgesamt ist das Buch gut strukturiert und lenkt den Leser bzw. die Leserin gekonnt durch ein vielfältiges Material aus acht Jahrzehnten. Nicht nur, dass der Autor die analytische Kontrolle über diesen großen Zeitraum behält – es gelingt ihm vielmehr, die Lehrwerke so zu lesen, dass die jeweiligen Sagbarkeitsräume sowie der Diskurswandel stets fundiert und detailreich aufgezeigt werden können. Besonders wertvoll ist zudem die Analyse der deutschen Selbstbilder in ihrem Verhältnis zu den Bildern „der Türkei“. Der Autor macht dabei seine begrifflichen und methodischen Entscheidungen ausreichend transparent und dokumentiert mit großer Präzision das Aufkommen, das Verschwinden bzw. die Neuausrichtung einzelner Diskursbestandteile.

In den analytischen Passagen überzeugt das Buch am meisten, während die Bezugnahmen auf den Kontext etwas konziser sein könnten. Eine gewisse Spannung kann auf theoretischer Ebene angemerkt werden. Auf der einen Seite entscheidet sich der Autor für einen Wissensbegriff, der diskurstheoretisch begründet „von der Achse ‚wahr/falsch‘ losgelöst“ (46) ist. Gleichzeitig entsteht vereinzelt dann doch der Eindruck einer von binären Vorannahmen nicht ganz freien Betrachtung. Der Autor lässt sich manchmal dazu verleiten, „positive“ und „pejorative“ Schulbuchdarstellungen etwas zu dichotom gegenüberzustellen (102) und bemängelt das Fehlen „sachliche[r]“ Angaben (107). Im Grunde ist dies auch nachvollziehbar, und trotzdem birgt sich dahinter möglicherweise eine Vorstellung, die mit einem diskurstheoretischen Standpunkt nur bedingt vereinbar ist – dass Schulbücher überhaupt standpunktfrei oder -arm sein können. Historische Geschichtslehrbücher dienten sicherlich „als Medium der Verbreitung politischer Haltungen“ (147), wie der Autor anmerkt. Dies gilt jedoch in gewissem Maße auch für die heutige Zeit [2]. In diesem Sinne ist die Hoffnung des Autors, zur „Auflösung überkommener Stereotype in aufklärerischer Absicht“ (12) beizutragen bzw. „pejorative Fremdzuschreibungen und unreflektierte Selbstzuschreibungen aus den Erzählungen [verdrängen]“ (296) zu können, gleichzeitig löblich und als Ziel etwas zu hochgesteckt. Es ist schon viel erreicht, wenn Diskursanalyse – ohne eine vollständige „Auflösung“ anzustreben – jene Mechanismen offenlegt, die der Kontrolle (des Senders, aber auch des Empfängers der Botschaft) entgehen [3]. Dies gelingt dem Autor hervorragend.

[1] Die Begriffe „die Türken“ bzw. „die Osmanen“, „die Türkei“ bzw. das „Osmanische Reich“ verwendet der Autor den Quellentexten entsprechend synonym (22).
[2] Foster, S. J., & Crawford, K. A. (2006). The critical importance of history textbook research. In S. J. Foster & K. A. Crawford (Hg.), What shall we tell the children? International perspectives on school history textbooks (S. 1–23). Information Age Publishing.
[3] Derrida, J., & Caputo, J. D. (1997). Deconstruction in a nutshell. A conversation with Jacques Derrida. Fordham University Press.
Christine Chiriac (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christine Chiriac: Rezension von: Hellmanzik, Timm Gerd: Vom ‚Türkenjoch‘ zu ‚Deutschlands Freundschaft für die Türkei‘, Der Wandel des Wissens über das Osmanische Reich in deutschen Geschichtsschulbüchern 1839‒1918. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023. In: EWR 24 (2025), Nr. 2 (Veröffentlicht am 29.04.2025), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152546.html