
GewissermaĂen als HerzstĂŒck der Studie wird im zweiten Kapitel eine systematische Bestimmung der asymmetrischen Beziehungsstruktur zwischen Lehrenden und Lernenden in Form einer theoretisch-heuristischen AnnĂ€herung vorgeschlagen. Grundlegend knĂŒpft Bressler dabei an eine Unterscheidung in zwei Asymmetriedimensionen (Wissensdimension und Machtdimension) nach Werner Helsper und Sabine Reh [1] an und differenziert hierfĂŒr weitere sog. Asymmetriefacetten aus. HierfĂŒr liefern strukturtheoretische BestimmungsansĂ€tze pĂ€dagogischer ProfessionalitĂ€t sowie systemtheoretische Ăberlegungen zur pĂ€dagogischen Kommunikation und zum Interaktionssystem Unterricht die wesentlichen Impulse, die ĂŒberzeugend systematisiert und fĂŒr das Erkenntnisinteresse fruchtbar gemacht werden. Bei der Darstellung der einzelnen Facetten geht es Bressler zum einen darum, genauer zu bestimmen, worin deren BearbeitungsbedĂŒrftigkeit besteht, zum anderen befragt er sie dahingehend, ob sie sich als konstitutiv fĂŒr die LSB erweisen. Besonders gelungen ist, dass dabei nicht affirmativ an groĂe soziologische Thesen angeschlossen wird, sondern diese ĂŒberzeugend modifiziert werden. Eine interessante Perspektive eröffnet beispielsweise die Auseinandersetzung mit der bekannten These Niklas Luhmanns zum Erziehungssystem, dass dieses unweigerlich âSelektionâ â Bewertung und Auslese â notwendig mache [2]. Hier fĂŒhrt Bressler die Unterscheidung zwischen âaneignungsprĂŒfenderâ und âkarrierewirksamer Selektionâ ein, die bei Luhmann nicht scharf voneinander getrennt werden. Dabei erweist sich erstere, verstanden als ein Interesse daran, ob die Aneignung des Vermittelten ârichtigâ erfolgt, als konstitutiv fĂŒr das Handeln mit pĂ€dagogischer Absicht. Die zweite jedoch, die karrierewirksame Selektion, verstanden als die (formalisierte) Bewertung von Leistung zum Zwecke der Verteilung von Chancen, sei nicht notwendig mit pĂ€dagogischer Kommunikation verbunden (2.2.4). Die theoretisch-heuristische AnnĂ€herung ist somit schon fĂŒr sich genommen lesenswert. Sowohl fĂŒr Leser:innen, die sich fĂŒr den verhandelten Gegenstand interessieren, als auch fĂŒr solche, die ein gelungenes Beispiel einer fundierten Auseinandersetzung mit Struktur- und Systemtheorie rezipieren möchten.
Im dritten Kapitel stellt Bressler dann âkeinen Forschungsstand im ĂŒblichen Sinneâ (63) vor, da bisher kaum Studien vorliegen, deren Forschungsinteresse sich ausdrĂŒcklich auf den Umgang von Lehrpersonen mit der Asymmetrie in ihrer KomplexitĂ€t richten. Stattdessen arbeitet er entlang der in der Heuristik herausgestellten Asymmetriefacetten Befunde bestehender Studien heraus, die sich indirekt als instruktiv fĂŒr deren Betrachtung erweisen (63). FĂŒr die einzelnen Facetten der Heuristik ergeben sich vielfach Anschlussmöglichkeit aus den Bereichen der Schul-, Unterrichts- und Lehrpersonenforschung. Dennoch bekrĂ€ftigt die Analyse das die Dissertation grundierende Desiderat, die Asymmetrie systematisch in seiner KomplexitĂ€t zu betrachten (127).
Die empirische Studie der Arbeit zielt auf die handlungsleitenden Orientierungen von LehrkrĂ€ften im Umgang mit der Asymmetrie (129). Insgesamt wurden hierfĂŒr acht Gruppendiskussionen erhoben, von denen vier das Basissample bilden, die mit der Dokumentarischen Methode ausgewertet wurden. Die Herleitung der methodologischen und methodischen Anlage der Studie ist durchgehend plausibel und gut verstĂ€ndlich geschrieben. Die Befunde werden in Form von Fallportraits (Kap. 5) und einer sinngenetischen Typologie prĂ€sentiert (Kap. 6). In der Typologie werden die verschiedenen Umgangsformen der Lehrpersonen mit der Asymmetrie in zwei Dimensionen zueinander relationiert. Als Dimensionen dienen Gemeinsamkeiten, die alle Gruppen in der Auseinandersetzung mit der Asymmetrie teilen. So setzen alle Gruppen in ihrer beruflichen Handlungspraxis ihre âsuperiore Positionâ selbstverstĂ€ndlich voraus. Hier gibt es zum einen solche, die die Inanspruchnahme der superioren Stellung an persönlichen Interessen und BedĂŒrfnissen orientiert verhandeln (Typus: âSelbstbezĂŒglichkeitâ) und zum anderen solche, die sich bei der Inanspruchnahme daran orientieren, was sie als âberuflich notwendigâ erachten (Typus: âBezug auf das beruflich Notwendigeâ). Die zweite Gemeinsamkeit basiert auf der Wahrnehmung der Asymmetriegestaltung als kokonstruktiven Prozess, also als einen, der abhĂ€ngig von der Interaktion mit den Lernenden ist. Hierbei lĂ€sst sich zwischen einem âoppositionellenâ und einem âkomplementĂ€renâ Typus unterscheiden. Ersterer erlebt die Interaktion mit den Lernenden und die Inanspruchnahme einer superioren Position als konfliktreich, als etwas, das erkĂ€mpft werden muss. Zweiterer verhandelt die Interaktion als grundsĂ€tzlich harmonisch. Die Asymmetrie bildet hier einen stabilen, von den Lernenden akzeptierten Fixpunkt.
Im abschlieĂenden Kapitel werden die Befunde auf unterschiedlichen Ebenen weiterfĂŒhrend diskutiert. Dabei wird vor allem der Ertrag der Unterscheidung zwischen âSelbstbezĂŒglichkeitâ und âBezug auf das beruflich Notwendigeâ hervorgehoben. So zeigt sich zunĂ€chst, dass dieser Unterschied auch die andere Dimension, die Wahrnehmung der Interaktion mit den Lernenden, ĂŒberlagert, also von ihr geprĂ€gt ist (7.1). Ăhnliches zeigt sich auch mit Blick auf die Relationierung von Empirie und Heuristik: Die durch die Heuristik angestoĂene Sensibilisierung fĂŒr eine mögliche FacettenabhĂ€ngigkeit bei der Bearbeitung der Asymmetrie zeigt sich gerade nicht. In der beruflichen Handlungspraxis nehmen LehrkrĂ€fte die Asymmetrie als zusammenhĂ€ngendes Ganzes wahr und die unterscheidbaren Facetten weisen hinsichtlich des handlungspraktischen Umgangs mit ihnen eine Homologie auf. Dies fĂŒhrt Bressler zu der âThese einer habituell-handlungspraktischen âAmalgamierungâ der Asymmetrieâ (246) zusammen (7.2). Mit Blick auf andere dokumentarische Studien, die zwar andere Praxisdimensionen des Lehrer:innenhandelns beleuchten, jedoch mit Blick auf die Unterscheidung zwischen âSelbstbezĂŒglichkeitâ und âBezug auf das beruflich Notwendigeâ bemerkenswerte Parallelen aufweisen, deuten sich fĂŒr Bressler ErtrĂ€ge ĂŒber das spezifisch gegenstandtheoretische Interesse der Studie hinaus an. So können die Befunde weitere Forschung dazu anregen, auf die Suche nach grundlegenden, die Handlungspraxis von Lehrpersonen insgesamt umspannenden Handlungsprinzipien zu gehen (7.3).
Zusammenfassend lĂ€sst sich festhalten, dass der in der Dissertationsschrift interessierende Analysegegenstand â die Asymmetrie der LSB in seiner KomplexitĂ€t â sowohl theoretisch in Form der ausgearbeiteten Heuristik, als auch empirisch in Form der rekonstruierten Typologie, fundiert geschĂ€rft wurde. Das Buch ist insofern zum einen empfehlenswert fĂŒr Leser:innen, die ein gelungenes Beispiel hinsichtlich der VerknĂŒpfung theoretischer und empirischen Auseinandersetzungen in einer Dissertationsschrift rezipieren wollen. DarĂŒber hinaus liegen innovative ErtrĂ€ge der Arbeit in der weiterfĂŒhrenden Diskussion der Befunde, von der sich die dokumentarische Forschung (zu Lehrpersonen) anregen lassen kann.
[1] Helsper, W. & Reh, S. (2012). NĂ€he, DiffusitĂ€t und Asymmetrie in pĂ€dagogischen Interaktionen. Herausforderung pĂ€dagogischer ProfessionalitĂ€t und MöglichkeitsrĂ€ume sexualisierter Gewalt in der Schule. In W. Thole, M. Baader, W. Helsper, M. Kappeler, M. Leuzinger-Bohleber, S. Reh, & C. Thompson (Hrsg.), Sexualisierte Gewalt, Macht und PĂ€dagogik (S. 265â290). Barbara Budrich.
[2] Luhmann, N. (2002). Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Suhrkamp.