
ZunĂ€chst geht es aber um die Abhandlungen selbst, die in sechs Abschnitten geordnet wurden. Drei dieser Abschnitte folgen den Epochen der UniversitĂ€t seit der FrĂŒhen Neuzeit. Dem Humanismus (I) gelten zwei BeitrĂ€ge.
Der erste zeigt die sprachliche Bildung in den ArtistenfakultĂ€ten in ihrer Rolle fĂŒr berufliche Verwertbarkeit (Julia Kurig), der zweite prĂ€sentiert eine an der Sprachenfrage sich entzĂŒndende Reformdebatte in Leipzig (Karsten Engel). Der historisch-internationalen Perspektive (II) gelten drei BeitrĂ€ge: Der erste analysiert aus den Kontroversen ĂŒber die Möglichkeit einer katholischen UniversitĂ€t in PreuĂen im 19. Jahrhundert, wie dabei die belgische UniversitĂ€t Löwen als Argument in und fĂŒr eine UniversitĂ€t in MĂŒnster fungierte (Andeas Oberdorf); Marcelo Caruso hat untersucht, wie in der kolonialen indischen UniversitĂ€t ââpedagogyâ und Lehrerbildungâ zwischen 1882 und 1922 organisiert waren, und Toshiko Ito belegt, personenbezogen, wie in Japan das Autonomie-Problem zwischen Staat und UniversitĂ€ten um und nach 1900 verhandelt wurde. âStrukturelemente deutscher Hochschulentwicklungâ (III), ein groĂes Thema, wird an den ReformplĂ€nen des Leipziger Historikers Karl Lamprecht fĂŒr die Debatte vor 1914 behandelt (Jonas Flöter), und âwissenschaftliche Schulenâ werden am Beispiel der ihrem Lehrer, dem preuĂischen Historiker Hans DelbrĂŒck, strikt folgenden SchĂŒler als âBeharrungsfaktor der Hochschulentwicklungâ entdeckt (Jonas Klein). FĂŒr Praktiken der âHochschulbildung an vielfĂ€ltigen Ortenâ (IV) ist ein universitĂ€r angelagertes Erziehungsinstitut im frĂŒhen 19. Jahrhundert in Marburg ein Beispiel (Christina Stehling); fĂŒr die ProduktivitĂ€t seiner diversen, öffentlichen wie geheimen, Sozialisationsetappen steht die â privilegierte â Bildungsbiografie von Janusz Korczak zwischen Warschau, Berlin, Paris und London (Kristina Schierbaum). Die beiden letzten Abschnitte gelten âLehren und Lernenâ (V) â und hier heiĂt das Dual âTradition und Innovationâ â sowie (VI) âWissenserwerb und Wissensvermittlungâ, jetzt wieder âzwischen Beharrung und Reformâ â wobei die Differenz der Ordnungsbegriffe nicht ganz deutlich wird, denn um Lernen und Lehren und die damit verbundenen Ambivalenzen geht es allemal. Gleichwie, drei BeitrĂ€ge (zu V) umfassen eine Fallstudie zum Akademischen Museum der UniversitĂ€t Göttingen (Cristiana Bers), âstudentische Selbstbildungâ und âneuphilologische Vergemeinschaftungâ fĂŒr Leipzig vor 1914 und den âAkademisch-Neuphilologischen Vereinâ (Martin Reimer) sowie âFormen der Selbstbildungâ, dargestellt fĂŒr allgemeine Bildung, âin deutschen und französischen Studentenorganisationenâ (Antonin Dubois). Hier wird noch einmal die Vielfalt, aber auch die kulturelle Differenz in der Praxis akademischer Geselligkeit und in den Erwartungen an ihre Funktion herausgearbeitet, wie sie sich auĂerhalb der UniversitĂ€ten beidseits des Rheins bis 1914 etabliert hat. Im letzten Abschnitt (VI) zeichnet Patrick BĂŒhler nach, welche â restringierten â Chancen angesichts der universitĂ€ren Distanz zu Freud und des latenten Antisemitismus die Psychohygiene und Heinrich Meng als ihr Proponent in Basel zwischen 1930 und 1960 hatten. âPĂ€dagogikâ, als Fach ja nicht sehr reputiert, wird dagegen âals Trumpfâ in der âKarriere einer sozialistischen Professorin an der Humboldt-UniversitĂ€tâ am Beispiel der Krippenforscherin Eva Schmidt-Kolmer fĂŒr die DDR-Zeit nachgewiesen (Carolin Wiethoff und Florian von Rosenberg). Die âWissenskonflikteâ schlieĂlich, die sich auch in der Schweiz von 1950 bis 1980, also auch in der âPhase neuer sozialer Bewegungenâ, zwischen Wissenschaft und Politik, in der UniversitĂ€t und in akademischer Distanz zur studentischen Oppositionskultur bei der Gestaltung der Lehrerbildung in ZĂŒrich entzĂŒndet haben, sind das Thema des abschlieĂenden Beitrags (Andrea De Vincenti, Norbert Grube und Andreas Hoffmann-Ocon).
Ein breites Angebot, zweifellos, aber auch sehr spezialisiert in den einzelnen BeitrĂ€gen, ohne dass ein vergleichendes ResĂŒmee angeboten wĂŒrde â oder dem Rezensenten möglich wĂ€re. Das Dual âzwischen Beharrung und Reformâ gewinnt jedenfalls ĂŒber das bekannte, triviale, Faktum hinaus, dass es sich konstant zur Stilisierung inneruniversitĂ€rer Ereignisse und fĂŒr die Relation zur Umwelt nutzen lĂ€sst, wenig prĂ€zise Aussagekraft. Nicht einmal die Annahme der Herausgeber:innen, dass die UniversitĂ€ten die FĂ€higkeit besaĂen, âeinen gewissen Kernbestand von Prinzipien oder Idealen ĂŒber die Zeiten hinweg sorgfĂ€ltig zu bewahrenâ (9), wird geprĂŒft oder auch nur zum Thema, so wenig wie die Vermutung, dass âein MindestmaĂ an grundsĂ€tzlicher Reformbereitschaftâ (9) systemisch notwendig war. FĂŒr eine Generalisierung solcher Thesen auf die gesamte UniversitĂ€t sind die Exempel nicht aussagekrĂ€ftig, sondern zu eng und zu wenig kontextualisiert. Die Schweiz und Frankreich, Japan und Indien reichen auch nicht aus, um die internationale Dimension des Themas mehr als zu illustrieren, weil schon bedeutsame Differenzen, u.a. die europĂ€ischen zwischen angelsĂ€chsischen, französischen oder den deutschsprachigen UniversitĂ€ten, zu schweigen von den USA oder China, gar nicht prĂ€sent sind. Und die bildungshistorische Spezifik? Die Herausgeber sehen sie in der Analyse von âLehren und Lernen, Erziehung, Bildung und Sozialisation, Geschlechter- und GenerationenverhĂ€ltnissenâ. Ja, das kommt vor, aber doch nur je lokal, nicht kontextualisiert oder generalisierbar. Erinnert sei an die fehlende Geschichte der politisch ambitionierten und z.B. in der Hochschuldidaktik â auch kein Thema â engagierten Gesamthochschulen, zu ergĂ€nzen um den Befund, dass das Studiensystem ânach Bolognaâ und auch die national wie international höchst intensiven Diagnosen ĂŒber die âKrise der UniversitĂ€tâ vollstĂ€ndig ausgeblendet bleiben â kein Thema fĂŒr Bildungshistoriker:innen? Ein wenig mehr Selbstlob wĂ€re in der Einleitung daher schon angemessen gewesen.
âUniversitĂ€ten und Hochschulenâ werden nĂ€mlich âbildungshistorischâ eben nicht, anders als die Herausgeber:innen sagen, âals Orte sichtbar [âŠ], in denen sich einerseits gesellschaftliche Entwicklungen spiegelten, die aber andererseits auch selbst zu Motoren und Katalysatoren wurdenâ (13). Aber das ist wohl das Schicksal solcher Sammlungen, dass sie die Vielfalt der relevanten Fragen eher an Exempeln zeigen, als sie irgendwie umfassend zu behandeln oder, wie man das vielleicht doch von einer Einleitung hĂ€tte erwarten dĂŒrfen, systematisch zumindest deutlicher zu ordnen.
[1] Dazu nur drei Exempel und zwei Hinweise, die Exempel als Beleg fĂŒr die These von der StabilitĂ€t des Topos:
Szagun, A.-K. (2003). Universitas semper reformanda. Neue Lernwege in Theologie und ReligionspÀdagogik. LIT Verlag.
vom Bruch, R. (2009). Universitas semper reformanda. GrundzĂŒge deutscher
UniversitÀten in der Neuzeit. In M. Rudersdorf, W. Höpken & M. Schlegel (Hrsg.),
Wissen und Geist. UniversitÀtskulturen. (S. 19-41). Franz Steiner Verlag.
Rudersdorf, M. (2016). âUniversitas semper reformanda.â Die beharrende Kraft des Humanismus. Zu einem Grundkonflikt neuzeitlicher UniversitĂ€tsgeschichte im Jahrhundert der Reformation. S. Hirzel Verlag.
Die Hinweise: Mit dem Topos wird keineswegs nur ein deutsches Thema bezeichnet, auch eine Keynote lecture von William Whyte, Oxford University, nimmt den Topos auf: âSemper Reformanda: Reform and the University Through Historyâ, gehalten am 05.05.2022 in Konstanz anlĂ€sslich einer Tagung der ERUA (European Reform Universities Alliance). Der zweite Hinweis erinnert, dass diese These auch eine Variante kennt: âEcclesia semper reformanda estâ!