EWR 7 (2008), Nr. 6 (November/Dezember)

Jörg Zirfas / Benjamin Jörissen
Phänomenologien der Identität
Human-, sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen
Wiesbaden: VS Verlag für Erziehungswissenschaften 2007
(272 S.; ISBN 978-3-8100-4018-5; 29,90 EUR)
Phänomenologien der Identität Die Fragen nach der Identität scheinen pädagogisches Denken und Handeln nicht nur in der Vergangenheit begleitet zu haben; sie sind auch heute en vogue und in Diskussion – trotz und angesichts post- oder spätmoderner Verabschiedungen von konsistenten Identitätsvorstellungen. Jörg Zirfas und Benjamin Jörissen legen mit den ‚Phänomenologien der Identität’ ein aktuelles Buch vor, das Identität gerade auch angesichts der Einschätzung fokussiert, dass ‚die’ Identität per se nicht auf den Begriff zu bringen ist. Sie kommt heute als fragmentarisierte, als dezentrierte, entgrenzte, prekäre und plurale in den Blick. Dementsprechend diskutieren die Autoren Identität auch nicht als ein fest umrissenes Konzept oder Modell, sondern als ein „phänomenologisches Prisma, ein problematisierendes Diskursfeld, das unterschiedliche Fragen aufwirft und ebenso unterschiedliche Antworten inauguriert“ (11). Als Grundidee des Buches wird nicht die Frage nach ‚der’ Identität ausgewiesen, sondern die Frage nach den Problematisierungsfeldern, die als konstitutiv für Identität einzuschätzen seien. Denn die Schwierigkeiten und Problematiken in diversen Lebenssituationen ließen es notwendig erscheinen, auf den Gedanken der Identität zu reflektieren (vgl. 14).

In sieben Hauptkapiteln skizzieren Zirfas und Jörissen ihre human-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Analysen der Phänomenologien der Identität, die sich nicht als umfassende erschöpfende und hermetisch abgeriegelte finale Studien verstehen, sondern die unter verschiedenen Akzentuierungen und Perspektiven Einblicke in fragliche Selbst- und Fremderfahrungen ermöglichen sollen. Die Hauptkapitel sind nach Angaben der Autoren auch in anderen Reihenfolgen lesbar, im Buch sind sie in folgender Reihung anzutreffen: Auf das erste Hauptkapitel zur ‚Aktualität und Geschichte eines Phänomens’ (I.), das die Frage(n) nach Identität aufnimmt, einen phänomenologischen Zugang eröffnet und die Ich-Identität der Modere als ein kulturhistorisches Phänomen ausweist, folgt Kapitel II zu ‚Bildung, Entwicklung und Sozialisation’. Dort kommen psychosoziale Entwicklungsgeschichten zur Sprache. Es werden auch die Spuren mimetischer und pragmatischer Identität verfolgt und Bildung als Rückweg, Fiktion und Entfremdung der Identität vorgestellt. Die Beziehung von Bildung und Identität in den letzten 40 Jahren in der Erziehungswissenschaft lässt sich als eine komplementäre verstehen. Bei allen Konjunkturen erweisen sich Bildung und Identität nicht als Alternativen, sondern als „sich wechselseitig erhellende Konzeptionen“ (84).

Mit dem Kapitel III verschiebt sich die Aufmerksamkeit zu ‚Körper, Geschlecht und Inszenierung’. So wird die Geschlechtsidentität als diskursives Erzeugnis unter anderem am Beispiel des Hermaphrodit, des Homosexuellen und Transsexuellen in den Blick genommen. Von Ritual und Performanz, über Körperidentitätspolitiken bis zum Image des ästhetischen Selbst, das als ätherisches zur Sprache kommt (vgl. 114), reicht die Verortung des Identitätsdiskurses an der Schnittstelle zu Geschlecht, Körper und Inszenierung.

Das folgende Kapitel IV. handelt von ‚Zugehörigkeiten’ und thematisiert damit die Frage nach der Relation des Ich zum Wir. Auf der Suche nach der Identität des Fremden wird zu allererst die Selbstfremdheit aufgefunden und Identität als eine „Antwort auf die Frage des Fremden“ (146) verstanden. Im Diskursfeld um Hybridität, Transkulturalität und Globalität werden gegenwärtig aktuelle Theorieeinsätze für die Frage nach Identität aufgenommen und diskutiert.

Das Kapitel V. widmet sich ‚Medialitäten und Technologien’ und nimmt die Frage nach Selbst- und Fremdbildern auf, wenn das Bild in dessen Präsentation wie Repräsentation immer auf ein (im-)materielles Anderes verweist (vgl. 160). Auch erzählte Bilder, Narrationen, werden auf der Suche nach biographischer Identität zur Sprache gebracht und eine narrative Ästhetik des Selbst in den Blick genommen. Eine solche versteht das biographische Selbstverhältnis als Chance für eine Identität, die auf Selbst-Analogie – anstelle einer Verpflichtung zur Selbstgleichheit im Sinne eines Konsistenzzwangs – beruht (vgl. 179). Diverse Fragen um mediale, simulierte, virtuelle und reale Identität und deren Relevanz für menschliche Selbstverhältnisse finden sich in diesem Kapitel ebenso wie eine Diskussion aktueller biotechnologischer Neucodierungen („Identität im Gehirn“, 193). Identität kommt bei Jörg Zirfas und Benjamin Jörissen diesseits der Gleichung ‚Ich = Gehirn’ zur Sprache. Sie zeigt sie sich in ihrer unhintergehbaren leiblichen und sozialen Verwobenheit.

Das Kapitel VI. lädt zu ‚Grenzgängen’ ein, die eine lohnenswerte Lektürereise einerseits zu Narziss, dem menschlichen Chamäleon und anderen Persönlichkeiten eröffnen und die andererseits den dekonstruktiven Einsatz im Fragegebiet von Identität differenziert erörtern sowie letztendlich zu Negativität und Unsagbarkeit führen. Hier wird Identität als nichtidentische Konstellation zu denken gegeben und die Chiffre von ‚unverfügbarer Identität’ (Alfred Schäfer) eingeführt. Damit wird angezeigt, dass Identität nicht über einen stabilen Identitätskern, eine fixe Identitätsessenz o.ä. fundiert wird, sondern über Unsagbares und Unbestimmbares, „das über dessen Verfügungsmöglichkeiten hinausgeht“ (242).

Im letzten Kapitel wird ‚Identität als Gleichheit, Ähnlichkeitsidentität oder Ähnlichkeit als Identitätsersatz’ (VII.) zur Diskussion gestellt. In Anschluss an die Arbeiten von Walter Benjamin (1984) und Gerhard Gamm (1994) wird der Vorschlag diskutiert, auf Identität zugunsten von Ähnlichkeit zu verzichten. Identität als Ähnlichkeitsmodell bedeutet, das Selbst als Metapher zu begreifen und Identität mehr als Bild denn als Begriff zu verstehen: „Identität ist eine Metapher kultureller Erfahrungen, deren Ähnlichkeiten unendlich sind. Man sollte versuchen, die Metapher zu denken, wichtiger aber wird sein, ihre Ähnlichkeit wahrzunehmen“ (252).

Methodisch knüpfen Jörg Zirfas und Benjamin Jörissen in und mit ihrer Arbeit „nur vage“ (13) und in „lockerer Form“ an Husserls Phänomenologie an; viel eher bewegen sich die Analysen auf einer Ebene „einer phänomenologisch-anthropologischen Hermeneutik, der Darstellung, Beschreibung und Reflexion der Phänomene und ihrer Beziehungen“ (14). Sie schlagen den Weg einer anthropologischen Phänomenologie – rekurrierend auf die Arbeiten Wilfried Lippitzs – vor und intendieren eine Verknüpfung der phänomenologischen Forschungen „in Bezug auf Zusammenhänge, die die Identität als Reflexionsbegriff betreffen und deren Erfahrungshorizonte und Entwicklungspotentiale“ (14). So versteht sich eine Phänomenologie der Identität als eine Analytik der Kontexte der Selbstbeschreibungen, deren Verschiebungen und Transformationen in den Blick kommen können: „Sie (die Phänomenologie der Identität; ES) stellt den Versuch dar, die Strukturen und Binnenlogiken der diversen Identitätskonstruktionen zu eruieren“(15).

Die Autoren zeichnen über die Phänomenologien der Identität – als Analyse der Kontexte von Selbst und Fremdbeschreibungen des Menschen – ein heterogenes Bild, das Eindeutigkeit der Begriffe oder der Methode kaum mehr erahnen lässt. So zeigen sich gegenständlich bunte und mehrdimensionale Bilder von Identität, deren Konturierungen je nach Perspektivierung (auf Geschlecht, Medien, Zugehörigkeit etc.) variieren. Wenn Zirfas und Jörissen davon ausgehen, dass der Begriff Identität hier nicht mehr zählt, weil er sich jeder erkenntnistheoretischen Bestimmung schlichtweg immer wieder entzieht, so bleibt auf einer anderen Ebene just der Begriff – oder besser: die Chiffre ‚Identität’ die einzige die einzelnen Kapiteln verbindende (Leer-)Stelle. Konsequenterweise legen die Autoren keinen durchgängigen ‚roten’ Faden: Sie folgen der Multi- und Polyperspektivität, die sie als methodischen Fokus, der den Gegenstand nun mal jeweils unterschiedlich bestimmt, gewählt haben. LeserInnen mögen auch nicht mit einer explizit bildungswissenschaftlichen conclusio im Singular rechnen, die das Thema „Identität“ aktuell für pädagogisches Denken und Handeln aufbereitet. Implizit geben die Studien freilich zu bedenken, auf welchem Problematisierungsstand und vor welchen Problemstellungen und Aufgaben pädagogisches Denken und Handeln heute Identität wahrzunehmen hätte.

Die Autoren enthalten sich an manchen bedeutenden Stellen – vielleicht angesichts der Unentscheidbarkeit – eines Urteils (z.B. in punkto Verabschiedung des Identitätsbegriffs zugunsten von Ähnlichkeit). Sie diskutieren in ihren Analysen differenziert den aktuellen Diskussions-, Publikations- und Erkenntnisstand in den Human-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Die Frage nach der Positionierung von Erziehungswissenschaft in den Human-, Sozial- und Kulturwissenschaften bleibt explizit unscharf. Darüber hinaus wird nicht recht deutlich, wie genau eine pädagogisch-anthropologische Hermeneutik verfährt und warum es sich beispielsweise nicht um Hermeneutiken von Identität, sondern um Phänomenologien der Identität handelt, die hier vorgelegt werden. Die Auswahl der bearbeiteten Problemfelder dürfte den Forschungsinteressen der Autoren geschuldet bleiben. Jörg Zirfas und Benjamin Jörissen nennen noch weitere offene Forschungsfelder wie beispielsweise Identität und Arbeit, Freizeit, Liebe, Freundschaft, Krankheit (vgl. 47).

Die Diversität, Heterogenität und Pluralität der Analysen machen das Buch zu einem reichhaltigen, diversifizierenden und in mancherlei Hinsicht wohl für LeserInnen, denen die unterschiedlichen Diskussionsstände unbekannt sind, wohl auch verwirrenden Lektüregegenstand, da sich der Gegenstand mit jeder neuen, anderen Perspektive verändert. Die nun vorliegenden Studien überschreiten binäre Codierungen und eine ‚entweder-oder’-Logik; sie verschreiben sich wohl eher einer ‚sowohl-als-auch’-Logik, die keine Berührungsängste mit Nachbardisziplinen kennt. Das Buch bietet damit eine lohnenswerte und spannende Lektüre und macht aktuelle Problemstellungen um Identität – im und über das erziehungswissenschaftliche Diskursfeld hinaus – diskutierbar.
Elisabeth Sattler (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Elisabeth Sattler: Rezension von: Zirfas, Jörg / Jörissen, Benjamin: Phänomenologien der Identität, Human-, sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen. Wiesbaden: VS Verlag für Erziehungswissenschaften 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978381004018.html