
Bereits am Inhaltsverzeichnis sowie in den bereits angeführten, in der Einleitung in den Band wiedergegebenen Fragen von Lehrkräften wird unmittelbar das dem Band zugrundeliegende Verständnis von schulischer Inklusion deutlich: Es ist ein explizit und exklusiv sonderpädagogisches. Demzufolge werden mit der Einleitung, den einzelnen Beiträgen sowie der Zusammenschau der Herausgebenden ausschließlich sonderpädagogische mit allgemeindidaktischen Perspektiven zusammengeführt, um – so die Idee – zur Gestaltung inklusiven Unterrichts an ‚Regelschulen‘ beizutragen. Eine Differenzierung mit Blick auf ‚die Regelschule‘ findet dabei nicht statt, obgleich es aus (fach)didaktischer Sicht keinesfalls trivial ist, ob bspw. Deutschunterricht im Anfangsunterricht der Grundschule oder in der gymnasialen Oberstufe geplant wird. Irritierender und problematischer erscheint es jedoch – von einem Verständnis von Inklusion als „Differenzgerechtigkeit […] oder ex negativo: Nicht-Diskriminierung“ [3] ausgehend –, dass mit dem Inklusionsverständnis, das Kiel und Weiß ihrem Band zugrunde legen, ein äußerst enger resp. exklusiver Fokus gesetzt wird, durch den viele andere Differenzlinien weitgehend unberücksichtigt bleiben. Insbesondere jene, die seit Jahrzehnten nachweislich unmittelbar mit der (Re-)Produktion von Ungleichheit(en) und Ungerechtigkeit(en) im und durch das Bildungswesen verbunden sind. Wenn nun Lehrkräfte darin unterstützt werden sollen auf didaktischer Ebene das Menschenrecht auf inklusive Bildung „without discrimination and on the basis of equal opportunity“ [4] umzusetzen, dann müssten Konzepte einer allgemeinen sowie fachbezogenen inklusionsorientierten Didaktik – oder eben Einführungswerke wie das vorliegende – ebendies umfassend anregen. Das heißt für alle Kinder und Jugendlichen (denn das Menschenrecht auf Bildung gilt für alle Menschen gleichermaßen) und mit Blick auf alle möglichen Differenzlinien. Mit dem vorliegenden Band geschieht ebendies nicht.
Der ausschließlich sonderpädagogische Fokus in einem Einführungswerk für ‚Inklusive Didaktik‘ ist im Sinne differenter wissenschaftlicher Perspektiven auf Inklusion streitbar. Aus menschenrechtlicher und differenzkritischer Sicht ist er problematisch, weil er zu sehr verkürzt sowie einerseits differenzsetzend und andererseits nicht differenzkritisch genug ist. Ein Ausdruck für Letzteres ist, dass sich in diesem Band so z.B. ‚didaktische Tipps‘ finden, die aus rassismuskritischer Sicht höchst fragwürdig sind und unkommentiert bleiben (im konkreten Fall das Singen eines bestimmten Liedes, das als Ausdruck anti-chinesischen Rassismus gilt).
Die Autor*innen der einzelnen Beiträge zu den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten folgen dem Auftrag der Herausgebenden und beschreiben die ‚besonderen Bedürfnisse‘ von Schüler*innen mit dem jeweiligen Förderschwerpunkt und widmen sich davon ausgehend mal mehr, mal weniger kritisch der förderschwerpunktspezifischen Reflexion allgemeiner Aspekte von Didaktik. Dass dabei allen Beiträgen ein allgemeindidaktisches Rahmenmodell zugrunde liegt, schmälert die Problematik der potenziellen (Re-)Produktion des Stereotyps vom Kind/Jugendlichen mit ‚diesem oder jenen Förderbedarf‘ wenig. Letztlich werden mit den einzelnen Kapiteln klientelspezifische allgemeindidaktische Hinweise zusammengetragen, die wohl eher einen Beitrag zum Erhalt der Zwei-Gruppen-Theorie leisten als zu einer Sensibilität für die Vielfalt an möglichen Heterogenitätsdimensionen im Klassenzimmer und damit verbundene Möglich- und Notwendigkeiten der adaptiven Gestaltung eines für alle inklusiven Unterrichts. Zwar lassen sich aus den förderschwerpunktspezifischen Hinweisen durchaus Anregungen für alle Schüler*innen bzw. weitere Heterogenitätsdimensionen resp. Differenzlinien ableiten, dies bleibt jedoch weitgehend den Lesenden überlassen. Respektive wird ein solcher Transfer vielmehr sogar erschwert, da die herausgestellten Prinzipien und Prämissen einer vermeintlich inklusiven Didaktik für die Regelschule insbesondere mit der Zusammenschau der Herausgebenden zuvörderst für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf geltend gemacht werden und die inklusive Didaktik damit als eine Spezialdidaktik für ‚diese‘ Kinder und Jugendlichen entworfen wird. Ein Anspruch auf individuelle Förderung im Unterricht bestehe so vermeintlich „nur für die, die einen besonderen Förderbedarf haben“ (156). Dass es allgemeindidaktisch sinnvoll und Teil des kleinen Einmaleins der Binnendifferenzierung im Unterricht ist, z.B. ein individuelles Lerntempo zu ermöglichen, und dass eine diesbezügliche Entscheidung auch ohne jedweden sonderpädagogischen Förderbedarf sinnvoll sein und getroffen werden kann (weil selbstverständlich auch Kinder und Jugendliche ohne sonderpädagogischen Förderbedarf ein unterschiedliches Lerntempo haben können), scheint mit Blick auf den vorliegenden Band wenig selbstverständlich. Vielmehr ist hierzu lesen: „Der Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf in der Regelschule erfordert häufig, etablierte Zeitrahmen außer Kraft zu setzen“ (150).
Alles in allem vermag der von Kiel und Weiß herausgegebene Band keine neuen oder gar innovativen Perspektiven auf Didaktik in Schule unter dem Anspruch der Inklusion zu eröffnen – eher das Gegenteil scheint der Fall. Dass die einzelnen Beiträge von den Herausgebenden zusammenfassend nicht kritisch diskutiert und eingeordnet werden, sodass Frag- und Diskussionswürdiges weitgehend unhinterfragt und unreflektiert bleibt und es den Lesenden zukommt, kritisch zu lesen und zu reflektieren, scheint für ein Einführungswerk unangebracht. Gerade angesichts der Ausrichtung an den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten wäre in einem Einführungswerk nicht zuletzt wohl eine zumindest pointierte, aber dennoch reflexive Auseinandersetzung mit den komplexen Fragen der De- und Rekategorisierung [5] – z.B. mit dem „Spannungsfeld zwischen einer individuumsbezogenen Beschreibung notwendiger Hilfen sowie der Gefahr von Stigmatisierung und möglichem Ausschluss“ [6] – sinnvoll und zu erwarten gewesen. Solche Reflexionen finden sich jedoch insgesamt ebenso nicht wie eine notwendigerweise kritische Auseinandersetzung z.B. mit der Frage, ab wann aus einer didaktischen Reduktion eine reduktive Didaktik wird, mit der Bildungsrechte eher beschnitten werden. So werden die Adressat*innen des vorliegenden Bandes (in erster Linie Studierende und Lehrpersonen) über die Spezifik des verengten Fokus und u.a. mögliche Probleme mangelhafter Differenzkritik mit Blick auf didaktische Fragen im Unklaren gelassen.
‚Inklusive Didaktik für die Regelschule. Eine Einführung für Studium und Praxis‘ ist ein Band für die, die sich noch nicht oder kaum mit Sonderpädagogik beschäftigt haben und dies mit Blick auf allgemeindidaktische Aspekte tun wollen. ‚Sonderpädagogik und Allgemeine Didaktik‘ wäre ein wohl passenderer Titel für diesen Band, der keine falschen Erwartungen weckt. Der Band von Kiel und Weiß vermag im Zweifel eher zur Sonderbehandlung einzelner Kinder und Jugendlicher in Schule beizutragen als zur Umsetzung des für alle Schüler*innen bestehenden Rechts auf inklusive, diskriminierungsfreie und chancengerechte(re) Bildung. Wer sich mit Sonderpädagogik unter allgemeindidaktischen Gesichtspunkten bzw. sonderpädagogischen Reflexionen von allgemeindidaktischen Prinzipien beschäftigen möchte, ohne zu einer kritischen Reflexion des deutschen Schulwesens und der Rolle der Sonderpädagogik im Kontext von Integration und Inklusion angehalten zu werden, sowie gleichsam auf fachdidaktische Impulse verzichten kann, kann mit dem vorliegenden Band durchaus Vorlieb nehmen.
[1] Myschker, N., & Ortmann, M. (1999). Integrative Schulpädagogik. Kohlhammer.