EWR 24 (2025), Nr. 2 (April)

Carl Hehmsoth
Traumatisierte Kinder in Schule und Unterricht
Wenn Kinder nicht wollen können
Bad Heilbrunn / Stuttgart: Verlag Julius Klinkhardt / UTB 2024
(287 S.; ISBN 978-3-8252-6336-2; 21,90 EUR)
Traumatisierte Kinder in Schule und Unterricht Bereits die Einleitung von Hehmsoths Handbuch erzeugt durch eine drastische Vignette emotionale EindrĂŒcke: „Cleo, 11, wird regelmĂ€ĂŸig geschlagen. Sie bekommt nur unregelmĂ€ĂŸig zu essen und teilt sich ihr Zimmer mit ihrer Schwester. Sie riecht, als ob sie sich nur selten wĂ€scht. Mohammed kommt aus Syrien und ist ĂŒber das Mittelmeer mit seinen Eltern geflohen. Er hat gesehen, wie andere Menschen ertranken. In Syrien konnte er Bomben fallen sehen, hören und fĂŒhlen. Torbens Eltern haben sich vor Kurzem scheiden lassen. Eine Welt bricht fĂŒr ihn zusammen. Ninas Eltern sind drogensĂŒchtig. Sie sagen ihr, dass sie dumm und wertlos sei. Joosts Mutter ist psychisch krank und erkennt ihn hĂ€ufig nicht“ (9).

Diese Fallvignetten, von denen das Buch insgesamt 120 enthĂ€lt, illustrieren exemplarisch die LebensrealitĂ€ten von SchĂŒler:innen, die unter traumatischen Belastungen leiden. Die gewĂ€hlte Darstellung ist eindrĂŒcklich, tendiert jedoch zu Stereotypisierung und einer dramaturgischen Zuspitzung. WĂ€hrend diese Fallbeispiele als narrativer Zugang in die Thematik fungieren, stellen sie zugleich die Grundlage fĂŒr Hehmsoths Argumentation dar. Das Buch arbeitet konsequent mit dieser Form der Veranschaulichung, wodurch Leser:innen eine NĂ€he zur Lebenswirklichkeit betroffener Kinder und Jugendlicher ermöglicht wird. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass durch die Zuspitzung der Beispiele die Bandbreite traumatischer Erfahrungen nicht ausreichend differenziert dargestellt wird. Einerseits wird Trauma hier vor allem als ein individuelles Schicksal beschrieben, wĂ€hrend strukturelle und gesellschaftliche Bedingungen, die Traumatisierung begĂŒnstigen oder verstĂ€rken, eher in den Hintergrund treten. Andererseits bleibt unklar, ob es sich bei den Vignetten um reelle, empirische oder konstruierte Fallbeispiele handelt.

Der Autor Hehmsoth ist Sonder- und HeilpĂ€dagoge mit einem Forschungsschwerpunkt auf Psychotraumatologie in der Schule. Sein Buch basiert auf seiner Dissertation und integriert internationale Perspektiven. Laut Klappentext richtet sich das Handbuch an „Studierende, Referendare und LehrkrĂ€fte sowie Schulleitungen“ und verspricht strukturierte Einblicke in den „Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen“. Diese Zielgruppendefinition legt nahe, dass das Werk sowohl wissenschaftlich fundierte als auch praxisrelevante Inhalte liefern möchte. In der Tat gelingt es dem Autor, grundlegende Konzepte der TraumapĂ€dagogik verstĂ€ndlich zu erlĂ€utern, wobei die wissenschaftliche Reflexion an einigen Stellen hinter der anwendungsorientierten Darstellung zurĂŒcktritt.

Im ersten Kapitel mit dem Titel ‚TraumapĂ€dagogik‘ beschreibt Hehmsoth die TraumapĂ€dagogik als „Paradigmenwechsel der Hilfen fĂŒr traumatisierte Kinder und Jugendliche“ (15). Er problematisiert jedoch den Begriff ‚PĂ€dagogik‘ in diesem Zusammenhang, da die TraumapĂ€dagogik eher eine interdisziplinĂ€re VerknĂŒpfung von psychotraumatologischen (medizinisch-psychologischen) Erkenntnissen mit (sozial-)pĂ€dagogischen AnsĂ€tzen sei – eine Art „TraumapĂ€dalogie“ (23). Der Autor zeigt die Schwierigkeit auf, TraumapĂ€dagogik theoretisch einzuordnen, und bietet einen transnationalen Blick auf das Thema. Besonders hervorzuheben ist die Darstellung des Trauma-Informed Approach, der im angloamerikanischen Raum als systemische Perspektive auf Trauma dient. Allerdings bleibt er am Ende des ersten Kapitels in seiner Unterscheidung zwischen „traumasensibel“ und „traumapĂ€dagogisch“ (28) vage. Auch bleibt unklar, wie genau die Schule als „Helferin und nicht als TĂ€terin“ (32) auftreten kann, wenn das System Schule, sprich das Bildungssystem, selbst nicht nĂ€her analysiert bzw. kritisch reflektiert wird.

Die Frage ‚Welche Akteure sind beteiligt?‘, die zugleich den Titel des zweiten Kapitels bildet, beantwortet der Autor, indem er drei zentrale Arbeitsbereiche vorstellt, die maßgeblich zur UnterstĂŒtzung ‚traumatisierter Kinder‘ beitragen. Er beschreibt die Rolle von SozialpĂ€dagogik, SonderpĂ€dagogik, Psychotraumatologie sowie klinischer Psychologie und die Aufgaben der einzelnen Expert:innen. Der interdisziplinĂ€re Ansatz ist lobenswert, insbesondere die Betonung der multiprofessionellen Zusammenarbeit. LehrkrĂ€fte in der Schule fungieren dabei als Schnittstelle zwischen SchĂŒler:innen und externen Expert:innen, was eine effektive UnterstĂŒtzung ermöglichen soll. Problematisch ist jedoch das unangefochtene Primat der medizinischen Psychotraumatologie. Eine medizinische Diagnose wird als Voraussetzung fĂŒr jegliche Ressourcen und Hilfen dargestellt: „Wenn es keine umfassenden Diagnosen der Mediziner gibt, bekommen LehrkrĂ€fte im Alltag keine Hilfen, wie Integrationshelfer, Nachteilsausgleiche, Förderbedarfe“ (40). Diese biologistische Pathologisierung zeigt sich auch in den verwendeten Metaphern, etwa wenn „Traumatisierte“ mit einem „kaputten Auto“ verglichen werden, das repariert werden muss (57), oder wenn Trauma mit einem Virus assoziiert wird, das in den Zellkern eindringt (48).

Im dritten Kapitel, das mit der Frage ‚Welche EinflĂŒsse wirken auf das Kind?‘ betitelt ist, geht der Autor auf Ursachen von Traumafolgestörungen ein und prĂ€sentiert das Modell der ‚Wirkfaktoren‘. Dieses hebt sich vom klassischen Konzept von Risiko- und Schutzfaktoren ab, indem es deren duale Wechselwirkungen betont. Der Autor beschreibt sechs Faktoren: ökonomische Versorgung, Medien, Familie, Migration, Freizeit und Freunde sowie Schule. WĂ€hrend Hehmsoth in diesem Kapitel erstmals die Schule nicht nur als „Helferin“, sondern auch als „TĂ€terin“ thematisiert (149), bleibt eine tiefere systemische Analyse aus. Besonders problematisch ist die VerknĂŒpfung von Migration und Schule unter der UnterĂŒberschrift „Schule, Werte und Kultur“, wo der Autor „kulturelle Unterschiede“ und Werte in einer problematischen Weise beschreibt: „Fleiß, Ausdauer, PĂŒnktlichkeit mögen abgegriffen sein, fĂŒr die Schule haben diese Werte aber eine enorme Bedeutung. FĂŒr viele Kinder aus dem Nahen Osten, die Flucht und Verfolgung erlitten, haben sie eine andere Konnotation“ (151). Solche Formulierungen bergen die Gefahr, Stereotype zu reproduzieren, und hĂ€tten einer differenzierteren Betrachtung bedurft. Gerade in einer traumasensiblen/-informierten PĂ€dagogik sollte jedoch der Anspruch bestehen, kulturelle und soziale HintergrĂŒnde nicht pauschalierend zu kategorisieren, sondern die individuellen Erfahrungen von SchĂŒler:innen in den Mittelpunkt zu stellen.

Mit ‚Traumasensible Hilfen und UnterstĂŒtzung‘, dem vierten und letzten Kapitel des Handbuchs, bietet der Autor Handlungsanleitungen fĂŒr eine traumasensible Schule. Besonders aufschlussreich ist der Abschnitt ‚Unterricht‘, in dem traumasensibles Handeln auf zwei Prinzipien basierend vorgestellt wird: Vertrauen und VerlĂ€sslichkeit (267). Gleichzeitig zeigt sich hier eine problematische Fokussierung auf „academic performance“. Einerseits wird „internalisiertes“ Trauma oft ĂŒbersehen, da es nicht immer zu auffĂ€lligem Verhalten fĂŒhrt. Andererseits suggeriert das Buch, dass schulisches Lernen fĂŒr traumatisierte Kinder „nachrangig“ sei (253), ohne differenziert zu analysieren, dass nicht jedes disruptive Verhalten traumabedingt ist.

Hehmsoths Buch liefert wertvolle Einblicke in die Faktoren, die Trauma beeinflussen, und vermittelt ein SpektrumverstĂ€ndnis von Trauma. Allerdings gibt es zentrale Kritikpunkte. Die vorgestellten Konzepte sind reaktiv und nicht proaktiv: Trauma wird erst dann thematisiert, wenn es sich in auffĂ€lligem ‚externalisierten Verhalten‘ zeigt. Die Systemkritik bleibt oberflĂ€chlich – das System Schule wird als ‚Wirkfaktor‘ erwĂ€hnt (148), aber nicht grundlegend hinterfragt. LehrkrĂ€fte reflektieren ihre eigene Rolle und ihre ‚Haltung‘ kaum, obwohl der Autor die TraumapĂ€dagogik als ‚Haltungs-PĂ€dagogik‘ versteht. Trauma wird trotz Problematisierung des Störungsbegriffs (57) letztlich doch als defizitorientiertes Label genutzt. Ein intersektionaler, dekolonialer, machtkritischer und vor allem inklusionsorientierter Blick wĂ€re hier notwendig. Dennoch ist das Buch eine lesenswerte EinfĂŒhrung in die Thematik. Besonders fĂŒr LehrkrĂ€fte bieten Kapitel 3 und 4 nĂŒtzliche Einblicke und HandlungsansĂ€tze. Es bleibt jedoch eine zentrale SchwĂ€che: Die Gefahr der titelgebenden Etikettierung von Kindern als ‚traumatisiert‘ und die damit verbundenen reduktionistischen Perspektiven auf ihre Entwicklung werden nicht hinreichend reflektiert. Diese Reflexion wĂ€re besonders wichtig, um eine wirklich traumasensible Schule zu gestalten, die nicht nur Symptome behandelt, sondern auch die strukturellen Bedingungen fĂŒr diese Problematiken ernsthaft hinterfragt. Wie Alex Shevrin Venet (2023) es formuliert: „Trauma Is A Lens, Not A Label“ [1].

[1] Venet, A. S. (2023). Equity-centered trauma-informed education. Routledge. (S. 55).
Mohamed Abdel Keream (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Mohamed Abdel Keream: Rezension von: Hehmsoth, Carl: Traumatisierte Kinder in Schule und Unterricht, Wenn Kinder nicht wollen können. Bad Heilbrunn / Stuttgart: Verlag Julius Klinkhardt / UTB 2024. In: EWR 24 (2025), Nr. 2 (Veröffentlicht am 29.04.2025), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978382526336.html