
Orth verfolgt einen regional- bzw. mikrohistorischen Ansatz, indem sie exemplarisch eine Gruppe von rund 800 ledigen MĂŒttern aus Baden untersucht, die nach Basel migrierten und dort in den 1860er und 1870er Jahren insgesamt 835 Kinder zur Welt brachten. Ihr Interesse gilt sowohl den Strukturen, die uneheliche Geburten begĂŒnstigten, als auch den Geschichten der Frauen und der Frage, was es fĂŒr sie bedeutete, Nichtehelichkeit zu leben. Dazu hat sie eine beeindruckende Anzahl an gedruckten und ungedruckten Quellen akribisch ausgewertet, zu denen unter anderem Protokolle von Ortsbereisungen und Kirchenvisitationen sowie Ehe- und Kriminalgerichtsakten gehören. Auch wenn keine Ego-Dokumente der ledigen MĂŒtter vorliegen, werden die obrigkeitlichen Ăberlieferungen reflektiert als âSondenâ (57) in die Familien- und ReproduktionsverhĂ€ltnisse der Zeit sowie ihre Wahrnehmung genutzt.
Die Studie ist sehr gut lesbar, was auch am ĂŒberzeugend gewĂ€hlten Aufbau liegt. Die Leser:innen verfolgen den Weg der zwischen 1830 und 1860 geborenen Frauen des unterbĂ€uerlichen Milieus aus den lĂ€ndlichen badischen Regionen des MarkgrĂ€flerlands und des Hotzen- und Klosterwalds nach Basel und erfahren dann, wie dort das Anbahnen von âMĂ€nnerbekanntschaftenâ, Schwangerschaft und Geburt sowie der weitere Lebensweg verliefen. Orth ordnet ihre Ergebnisse dabei konsequent in den Forschungsstand ein und macht deutlich, inwiefern ihre Fallstudie vorliegende Ergebnisse bestĂ€tigt oder davon abweicht.
Im ersten Teil geht es zunĂ€chst um die Ausgangslage in Baden, insbesondere um die Rahmenbedingungen bzw. Faktoren, die fĂŒr uneheliche Geburten eine Rolle spielten. Dazu zĂ€hlt Orth das Heimat-, Ehe- und Erbrecht, religiöse Traditionen sowie die obrigkeitliche Haltung gegenĂŒber der Ehe. So galt dort beispielsweise zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und der GrĂŒndung des Kaiserreiches ein restriktives Verehelichungsrecht (35-36). Die Verfasserin kommt zu dem Schluss: âIn beiden Regionen eigneten sich die betrachteten Frauen und MĂ€nner bzw. ganze Familien Nichtehelichkeit als Lebensform an, um unter den bestehenden Bedingungen und unter den sie einschrĂ€nkenden rechtlichen, politischen und ökonomischen ZwĂ€ngen SexualitĂ€t leben und Kinder haben, eine Familie grĂŒnden zu könnenâ (97). Die dabei ausgeprĂ€gten Formen und Muster wurden an die nĂ€chste Generation weitergegeben und bei der Wanderung nach Basel mitgenommen.
Der zweite Teil widmet sich dann der in vielerlei Hinsicht prekĂ€ren Lebenssituation der badischen Arbeitsmigrantinnen in Basel. Sie waren ĂŒberwiegend als Fabrikarbeiterinnen und im Gesindedienst tĂ€tig; ihr Rechtsstatus als âAufenthalterinnenâ war an die Dauer des Arbeitsvertrags gebunden. Die MĂ€nner, die sie bei der Arbeit, im Wohnviertel oder bei VergnĂŒgungsveranstaltungen kennenlernten, gehörten ebenfalls der Unter- oder unteren Mittelschicht an, waren gröĂtenteils mit 20 bis 30 Jahren in einem Ă€hnlichen Lebensalter und stammten teilweise ebenfalls aus Baden. Bis 1875 stand vor- und auĂereheliche SexualitĂ€t in Basel unter Strafe; auĂereheliche Schwangerschaften mussten der Obrigkeit gemeldet werden. Die VĂ€ter entzogen sich vielfach der Verantwortung, wĂ€hrend die Frauen vor dem Ehegericht wohl auch aus prozessstrategischen GrĂŒnden mehrheitlich angaben, der Mann habe ihnen ein Eheversprechen gegeben.
Im Hinblick auf die schwierige wirtschaftliche Situation, insbesondere die Angst vor dem Verlust der Arbeitsstelle, kam es zu Abtreibungen und Kindsmorden. Dabei spielte unter anderem eine Rolle, dass die Frauen in der badischen Heimat und ihren Familien keinen âZufluchtsortâ (219) sahen und, vor allem wenn Eltern und Geschwister bereits ein uneheliches Kind versorgten, nicht mit UnterstĂŒtzung rechneten. Die Geburten, deren UmstĂ€nde einen groĂen Teil der Studie ausmachen, fanden entweder im hĂ€uslichen Umfeld oder im BĂŒrgerspital statt. Letzteres wurde im 19. Jahrhundert ausgebaut und professionalisiert, was sich unter anderem an der Einrichtung einer eigenen Abteilung fĂŒr Geburtshilfe 1868 zeigte. FĂŒr die hochmobile Gruppe der badischen Arbeitsmigrantinnen ohne ein ausgeprĂ€gtes soziales Netz vor Ort bot das Spital einerseits bei der Nutzung von âFreibettenâ die Möglichkeit der kostenlosen Versorgung bei und nach der Entbindung. Als Gegenleistung mussten sich die ledigen MĂŒtter jedoch andererseits als Untersuchungsobjekte fĂŒr die praktische Ausbildung von Medizinstudenten zur VerfĂŒgung stellen.
Orth verfolgt schlieĂlich in einem letzten Schritt den weiteren Lebensweg der Frauen nach der Geburt. Die meisten kehrten in ein ArbeitsverhĂ€ltnis zurĂŒck und behielten ihr Kind nicht bei sich. GĂ€ngige Praxis war es, das Kind gegen âKostgeldâ bei Pflegepersonen unterzubringen, bis es mit sechs oder sieben Jahren selbst Geld verdienen konnte. Die meisten Badenerinnen blieben dauerhaft ledig, was aber nicht ausschloss, dass sie in âwilder Eheâ oder einer nicht genauer davon unterschiedenen ânicht obrigkeitlich legitimierten Verbundenheitâ (273) mit einem Mann eine langfristige Beziehung fĂŒhrten und teilweise mehrere gemeinsame Kinder hatten. Stammten die Paten aus der Familie des Vaters und der Mutter, wertet Orth dies als Indiz dafĂŒr, dass diese die jeweilige Verbindung akzeptierten. Denn die Heirat wurde vielfach durch Ehehindernisse wie fehlende finanzielle Absicherung und hohe Kosten unterbunden.
In ihrem Fazit kommt Orth zu dem Ergebnis: âDie hier vorgestellten Frauen hielten fĂŒr ihre FamiliengrĂŒndung eine obrigkeitliche âLegitimierungâ fĂŒr nicht erforderlich: Sie lebten in Basel Nichtehelichkeit als NormalitĂ€tâ (287). Einen wesentlichen Grund dafĂŒr sieht sie in einer entsprechenden Sozialisation der Frauen in ihren badischen Herkunftsfamilien. Dementsprechend weist sie zwar auf die Strukturen und die âsich entziehenden MĂ€nnerâ (297) als Faktoren fĂŒr uneheliche Geburten hin, stellt aber den Eigen-Sinn und die agency der ledigen MĂŒtter in den Vordergrund. Diese nutzten ihre Handlungsmacht, um sich âmit den VerhĂ€ltnissen in Basel zu arrangieren und in diese aktiv einzugreifenâ (297). Orth zeigt dies in zahlreichen, von ihr so genannten Miniaturen, in denen sie die gesamten Lebenswege oder einzelne Stationen der von ihr untersuchten badischen Frauen minutiös nachzeichnet. Die mit viel MĂŒhe zusammengetragenen Miniaturen bilden eine groĂe StĂ€rke der Studie, indem sie detailgenaue Einblicke in die Lebenswelten lediger MĂŒtter aus den Unterschichten ermöglichen. An einigen wenigen Stellen (z.B. 244ff.) findet sich jedoch auch eine Aneinanderreihung vieler breit ausgefĂŒhrter Beispiele, und es wird teilweise sehr weit ausgeholt, etwa wenn bei der Darstellung des MarkgrĂ€flerlands und des Hotzen- und Klosterwalds bis in die FrĂŒhe Neuzeit zurĂŒckgegangen wird (Kap. 2). Damit gelingt es Karin Orth, den Forschungsstand um wichtige Facetten zu erweitern. Das gilt insbesondere fĂŒr die Einblicke in die Lebenswelten der Frauen und ihre Wahrnehmung im Hinblick darauf, was es fĂŒr sie bedeutete, Nichtehelichkeit zu leben. Insgesamt legt sie eine quellengesĂ€ttigte, lesenswerte Studie vor.