EWR 24 (2025), Nr. 2 (April)

Thomas Senkbeil / Oktay Bilgi / Dieter Mersch / Christoph Wulf (Hrsg.)
Der Mensch als Faktizität
Pädagogisch-anthropologische Zugänge
Bielefeld: transcript 2021
(356 S.; ISBN 978-3-8376-5687-9; 39,00 EUR)
Der Mensch als Faktizität In Was ist Neostrukturalismus? (1983, 438) schreibt Manfred Frank über Tausend Plateaus, das seinerzeit auf Deutsch noch gar nicht erschienen war, dass es sich um „eine Sammlung von Aufsätzen höchst ungleichartiger Machart und sehr ungleichmäßigen Niveaus“ [1] handele. Im Hinblick auf das Buch von Gilles Deleuze und Félix Guattari, die für sich in Anspruch genommen haben, viele zu sein, irrt Frank meines Erachtens, sein Diktum trifft aber auf beinah alle Sammelbände zu, was die Frage aufwirft, wie sie angemessen zu rezensieren seien.

Wie Tausend Plateaus muss man Sammelbände nicht von vorn nach hinten lesen, sie erlauben, eigenen Interessen zu folgen oder Beiträge auszulassen. Das gilt auch für den Sammelband Der Mensch als Faktizität, der auch nicht nur einer ist, sondern eher drei und der durch die Mannigfaltigkeit seiner Beiträge in vielerlei Hinsichten und immer wieder zur Lektüre einlädt, die insgesamt wahrscheinlich zu keinem gerechten Urteil über den Band führt, sondern zu einem eher subjektiven. Dieses Problem wiederum mildert ab, dass der Band im Open Access erschienen ist, so dass sich jede:r Lesewillige ein eigenes Bild machen kann. Mit Bildern endet auch der Band. In „How to become Andy Kassier“ zeigt der Konzeptkünstler Andy Kassier im Epilog in einer Reihe von Bildern, wie er Andy Kassier geworden sei. Dass Andy Kassier hier nicht identisch ist mit Andy Kassier, liegt auf der Hand.

Wer zu hohe Konsistenzerwartungen hegt, die oder den führen Titel und Untertitel des Bandes in die Irre. Der interessante dritte Teil des Bandes, der mit „Transformation des Menschen im Anthropozän: Krisenbearbeitung zwischen Natur und Kultur“ überschrieben ist, enthält kaum Ausführungen zum Postfaktischen oder zur Postfaktizität, deren Diagnose der Anlass gewesen zu sein scheint, den Band herauszugeben. Zumindest erinnern Bilgi, Senkbeil, Mersch und Wulf schon in der Einleitung (10) daran, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache, das Wort „postfaktisch“ bereits 2016 zum Wort des Jahres gekürt habe, weil es ausdrücke, dass die gefühlte Wahrheit bedeutsamer sei als Fakten, die die Wahrheit nie allein bestimmten und sowieso auch noch gar nicht lange. Den dritten Teil eröffnet ein Beitrag von Christoph Wulf, indem dieser im raschen Durchgang durch den Positivismusstreit daran erinnert, dass die Frage nach der Konstruktion des Faktischen nach wie vor wichtig sei, weil es die Wahrheit zu erkennen gelte, dass die Menschen im Anthropozän ihre Lebensqualität und -möglichkeiten aufs Spiel setzten, wenngleich „die Weltgemeinsachaft“ in der „vierte[n] Phase des Anthropozäns […] versucht, ihren destruktiven Bedingungen entgegenzuwirken“ (236). Wulf fasst die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie und die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung als Chancen auf, durch Nachhaltigkeit als neuer großer Erzählung, das Ruder noch umzulegen. Die Feststellung, dass die großen Erzählungen massiv an Glaubwürdigkeit eingebüßt hätten – Jean-François Lyotard nennt in Das postmoderne Wissen Emanzipation und Spekulation –, nutzen die Herausgeber auch schon in der Einleitung, wenn sie das Postfaktische der Postmoderne als vergleichbaren Epochenbruch mit dem Vorteil, eine neue große Erzählung zu begründen, beiseitestellen (10).

In der Rückschau scheinen sie die diskursive Wirkung des Postfaktischen zu überschätzen. Nichtsdestotrotz bleibt Wulf zuzustimmen, dass notwendig offen bleibe, ob die Chance umzusteuern genutzt werde. Kristin Westphal verschiebt den Fokus ins Praktische und Exemplarische. Ausgehend von Theater- und künstlerischer Forschung zeigt sie anhand verschiedener Theater- und Performance-Projekten mit Kindern, wie diese neue Formen und Imaginationen für das Leben im Anthropozän entwerfen. Claus Stieve kehrt anhand der Beschreibung einer videographierten Szene aus einer Kindertagesstätte, in der es um die Begegnung mit Spinnen und Käfern geht, zur Phänomenologie Merleau-Pontys zurück. Frank Beiler verlässt die Ebene auf seinem Streifzug durch die neuer ökologische Philosophie Viveiros de Castros, Morton, Coccias, Haraways, Tsings und anderer mehr, hält aber am Ende offen, inwieweit am Subjekt in den neuen ins Auge gefassten Ontologien und deren Bildung festzuhalten sei.

Diese Frage scheint für Oktay Bilgi entschieden, der über das Common Species Curriculum in die Pädagogik der frühen Kindheit adressiert und – wenn auch ohne Verweis auf Deleuze/Guattari – Margaret Sommervilles Becoming-frog als gelungene Transformation der Mensch-Natur-Beziehung anführt. Zum guten Schluss plädiert der Schriftsteller, Philosoph und Biologe Andreas Weber in einem lesenswerten Essay dafür, Menschlichkeit als Fruchtbarkeit zu verstehen, wodurch der Mensch in der Natur aufgehe und die hartnäckige Leitdifferenz Natur/Kultur durchlässiger werde.

Ums Postfaktische geht es vor allem im zweiten Teil des Bandes, der den Titel „Performativität und Politik in postfaktischen Zeiten“ trägt. Thari Jungen untersucht die Performativität von Fakes mit den Mitteln künstlerischer Forschung. Als Gegenstand dient ein Hochzeitsalbum, aus dem ein Bild dem Text voransteht. Anja Kraus schlägt Fake der Universitäts-, Schul- und Unterrichtsforschung als analytische Kategorie vor. Die Kultur- und Medienwissenschaftlerin Sara Morais dos Santos Bruss zeigt in ihrem Beitrag, dass die Situiertheit des Wissens immer wieder kenntlich zu machen sei, „sodass die vermeintliche Krise der Faktizität nicht als Neuheit, sondern als oftmals reaktionäres Aufbegehren gegen die Partizipation un/an/geeigneter Anderer am Wissensdiskurs begriffen werden kann.“ (152) Ann-Kathrin Stoltenhoff fragt, ob Körperbilder ein politisches Steuermittel seien, und hat sicher gute Gründe, wenn sie behauptet, dass sich der Mensch nicht jeden Morgen neu erfinden könne (165), ob es sich deshalb bei der von Rosi Braidotti vorgeschlagenen „mannigfaltigen nomadischen Identität“ um einen „Mythos“ handele (160), würde ich (wie Braidotti) von Deleuze aus bestreiten, zumal sie Mythos nur als Metapher gebraucht. Andy Kassier, denke ich, widerspräche ihr wohl auch. Die Eingangsbehauptung, dass „[d]as Wesen des Menschen […] zu allen Zeiten und immer wieder neu zur Debatte“ (155) gestanden habe, scheint mir in Erinnerung an Foucaults Die Ordnung der Dinge oder die jüngeren Bücher Descolas schlicht falsch.

Lena Scheuring, die im Autor:innenverzeichnis fehlt, versucht das kritische Potential der Aufmerksamkeit in postfaktischen Zeiten auszuloten. Dabei greift sie „die Sorge um die menschliche Aufmerksamkeit im digitalen Zeitalter“ (171) auf und tritt dem Technikskeptizismus in phänomenologischer Spur mit Meyer-Drawe entgegen. Auch Merleau-Ponty dient wieder als Gewährsmann. Ich habe mich gefragt, warum die Autorin nicht auf Bernard Stigler zurückgreift, und keine Antwort gefunden. Der Beitrag von Thomas Senkbeil wirft die Frage nach der Halbwertzeit von Zeitdiagnosen auf. Was im Sommer 2020 noch aktuell war, Corona, ist es seit 2022 viel weniger.

Dieser Effekt ist natürlich dem Umstand geschuldet, dass der Rezensent diese Rezension viel zu lange vor sich hergeschoben hat, weil er unsicher war, wie dieser Sammelband zu rezensieren sei. Gefragt hat er sich auch: Wie verhält sich zu Takt zu Rhythmus und hätten die Arbeiten vom Mbembe nicht auch 2020 schon kontextualisiert werden müssen? Dass Rosas Resonanztheorie kein Beitrag zur Revolution ist, so wünschenswert das wäre, hat die viel zu früh verstorbene Sonja Witte schon in einem Text zu einem anderen Transcript-Sammelband, Resonanzen und Dissonanzen (2017), unterstrichen. Der zweite Teil endet mit einem von Salomé Meier ein- und ausgeleiteten Interview mit dem Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke zur Neuausgabe von Hitlers Mein Kampf, dass zuerst im Schweizerischen Rundfunk gesendet wurde und in der nach wie vor aktuellen Feststellung mündet: „Wer sich die Sprache der Ermächtigung zueignet, kann sich selbst am Rausch der Macht beteiligen.“ (226)

Bleibt der grundlegende erste Teil: „Den Menschen anders denken“. Dieser wird eröffnet durch eine kleine Typologie der Menschenbilder von Jörg Zirfas. Darauf folgt der längste Beitrag des Bandes, in dem der Philosoph und Medientheoretiker Dieter Mersch versucht Ordnung in die „diskursive Unordnung“ (40) zu bringen, die die Begriffe Humanismus und Antihumanismus sowie Post- und Transhumanismus kontaminieren. Dabei versucht er ihrer „Affinität zu mathematischen Systemen“ (45) ebenso gerecht zu werden wie „zeitgenössischen posthumanistischen Übertreibungen“ (47) auszuweichen. Mersch charakterisiert den Menschen abschließend als aus drei Gründen unbestimmtes Wesen, „weil er bildsam und zukunftsoffen ist, weil seine Bestimmung in der Selbstbestimmung liegt.“ (81) Zirfas ergänzt Merschs Überlegungen zur Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit des Menschen in seinem zweiten Beitrag um eine pädagogisch-anthropologische Perspektive und fundiert diese Ergänzung pädagogisch-anthropologisch. Abgeschlossen wird der erste Teil von einem Beitrag von Theresa Lechner, die noch einmal bei Schleiermacher ansetzt, um dessen wissenschaftliche Grundlegung der Pädagogik mit ihrer anthropologischen Dimension kulturwissenschaftlich zu refigurieren und in einem relationalen Menschenbild zusammenzuführen. Weil „[d]er primäre Bezugspunkt einer relationalen Anthropologie […] die Beziehung zwischen Menschen – und nicht der Mensch selbst“ (97) ist, ruft sie schließlich Rahel Jaeggi und Bini Adamczak als Kronzeuginnen auf. Hier ließen sich Bezüge zur Revolution spinnen. Dafür müsste aber weitergedacht werden.

Der Band versammelt Texte von sehr etablierten und Nachwuchswissenschaftler:innen, von Autor:innen, die den erziehungswissenschaftlichen oder sogar pädagogisch-anthropologischen Diskurs angehören, und Autor:innen aus Nachbardisziplinen, eher experimentelle und auch konventionelle Beiträge. Der Band bildet eine Art Archipel, das war in grauer postmoderner Vorzeit, bei Lyotard vor allem, mal ein wichtiges Bild des Denkens. Ein Fazit lässt sich nicht ziehen, aber dessen ungeachtet gibt es etwas zu entdecken oder sogar viel, und der Download kostet nicht einmal etwas.

[1] Frank, M. (1983). Was ist Neostrukturalismus? Suhrkamp.
Olaf Sanders (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Olaf Sanders: Rezension von: Senkbeil, Thomas / Bilgi, Oktay / Mersch, Dieter / Wulf, Christoph (Hg.): Der Mensch als Faktizität, Pädagogisch-anthropologische Zugänge. Bielefeld: transcript 2021. In: EWR 24 (2025), Nr. 2 (Veröffentlicht am 29.04.2025), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383765687.html