
In Kapitel 2 erfolgt zunĂ€chst eine theoretische Auseinandersetzung mit den Begriffen Sozialstruktur(-analyse) und soziale Ungleichheit. DarĂŒber hinaus stehen empirische Befunde zu Bildungsungleichheiten im Fokus, die Herkunftseffekte auf Leistungen, Bildungswege und BildungsabschlĂŒsse von SchĂŒler:innen ausweisen.
In Kapitel 3 widmet sich die Autorin dem Konzept des Sozialkapitals. Dabei stellt sie verschiedene Ressourcen in der Vermittlung von Sozialkapital vor und geht zum Beispiel auf Familien- und GruppensolidaritĂ€t sowie auf das Vorhandensein von Information(-skanĂ€len) oder von Macht durch sozialen Einfluss als Ressourcen ein. Anhand empirischer Befunde zeigt die Autorin auf, dass die bisherigen Untersuchungsergebnisse zur Bedeutung von Sozialkapital im schulischen Bereich (allgemein und insbesondere bezogen auf die Kategorien Migration und Behinderung) uneinheitlich und widersprĂŒchlich sind. Sie verdeutlicht dies u.a. anhand der Ergebnisse vorliegender Studien zu den Effekten von Sozialkapital auf den Schulerfolg. Entsprechende Studien zeigen beispielsweise unterschiedliche Effekte der HĂ€ufigkeit elterlicher Mitarbeit auf die Wahrscheinlichkeit des Schulabbruchs der Kinder. Ăhnlich differente Ergebnisse weist die GegenĂŒberstellung von Studien zu Peer-Beziehungen von SchĂŒler:innen mit Behinderung auf. Die Studienergebnisse fĂŒhren teils zu dem Schluss, dass SchĂŒler:innen mit Lernbehinderung ĂŒber Freundschaften verfĂŒgen, die im Zeitverlauf ebenso stabil bleiben, wie die ihrer MitschĂŒler:innen ohne Lernbehinderung. Andere Studien zeigen hingegen, dass SchĂŒler:innen mit Behinderung ĂŒber weniger reziproke Freundschaften verfĂŒgen und ein höheres Risiko aufweisen, von sozialer Isolation betroffen zu sein.
Die Auseinandersetzung mit IntersektionalitĂ€t in Kapitel 4 lenkt den Blick zunĂ€chst auf die Historie des Konzepts. Die Autorin skizziert zudem, inwiefern sich die Kategorien âBehinderungâ, âMigrationâ, âsozioökonomischer Statusâ und âGeschlechtâ als Analysekonstrukte eignen. Anhand der Ergebnisse qualitativer und quantitativer Studien, die Bildungsungleichheiten aus einer intersektionalen Perspektive betrachten, legt sie verschiedene âHinweise auf eine IntersektionalitĂ€t der Strukturkategorien Behinderung, Migration, sozioökonomischer Status und Geschlechtâ dar (104).
In Kapitel 5 schlĂ€gt die Autorin zwei theoretische BezĂŒge fĂŒr die analytische Auseinandersetzung mit Sozialkapital aus intersektionaler Perspektive vor. Dabei handelt es sich um die Theorie der Kreuzung sozialer Kreise nach Blau und Schwartz sowie um die Theorie des sozialen Tauschs, die u.a. ĂŒber BezĂŒge auf LĂ©vi-Strauss, Bourdieu, Gouldner und Blau dargelegt wird. Die Theorie der Kreuzung sozialer Kreise wird âals beschreibende Charakteristik sozialer Strukturenâ eingefĂŒhrt (106). Sie besagt, dass âMenschen durch die Kreuzung ihrer sozialen Kreise Möglichkeiten erwachsen[,] Sozialkapital zu generierenâ (108). Das Konzept des sozialen Tauschs hingegen bezieht sich auf das soziale Handeln. Aus intersektionaler Perspektive lĂ€sst sich fĂŒr den Kontext Schule fragen, âwelche Gruppen von SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern im sozialen Tausch und damit in der Herstellung von Sozialkapital mit ihren pĂ€dagogischen Bezugspersonen, in erster Linie den Lehrpersonen, mehr oder weniger erfolgreich sindâ (111).
In Kapitel 6 werden die Fragestellungen abgeleitet. Als Leerstelle wird dabei die âintersektionale Analyse der Wechselwirkungen zwischen den Kategorien Behinderung, Migration, sozioökonomischer Status und Geschlecht bezogen auf das individuelle Mass [sic] an Sozialkapital aus der Perspektive von SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern, deren Hauptbezugs- sowie deren Lehrpersonenâ identifiziert (115-116). Angesichts dieser Leerstelle werden zwei Fragestellungen unterschieden: Die Untersuchung der Sozialkapitalprofile von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu zwei Untersuchungszeitpunkten, im Alter von 14 und 21 Jahren, zielt erstens auf die Beantwortung der Frage, âob und wie sich das Sozialkapital bei den Probandinnen und Probanden bezĂŒglich der Dimensionen netzwerkbasierte Ressourcen, Vertrauen und Werte unterscheidet beziehungsweise ĂŒber die Zeit verĂ€ndertâ (116). Daran schlieĂt sich zweitens die Frage an, welche âEffekte der Sozialstrukturkategorien Behinderung, Migration, sozioökonomischer Status und Geschlecht auf die Sozialkapitalprofileâ sich zeigen (116).
Kapitel 7 enthĂ€lt Informationen zum methodischen Vorgehen der durchgefĂŒhrten SekundĂ€ranalyse und zum Schweizer Kinder- und Jugendsurvey COCON als Datengrundlage. Neben der Beschreibung der Stichprobe stehen die Operationalisierung der Variablen und die BegrĂŒndung fĂŒr die Wahl der statistischen Verfahren im Vordergrund. Dabei wird die latente Klassenanalyse als ein statistisches Verfahren vorgestellt, dessen Anwendung es ermöglicht, Individuen in Gruppen einzuteilen, so dass von latenten Klassen gesprochen werden kann. Das bedeutet, dass Personen bzw. deren Antwortmuster in der statistischen Analyse âmit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einer bestimmten latenten Klasse zugeordnetâ werden können (138). Es kann beispielsweise untersucht werden, welche Individuen zu welcher latenten Klasse gehören.
Die Ergebnisdarstellung und -diskussion in Kapitel 8 und im ersten Teil von Kapitel 9 zeigen, dass das allgemeine Sozialkapital bei einem GroĂteil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Zeitraum zwischen den beiden Messzeitpunkten deskriptiv betrachtet abnimmt. Dies wird am Beispiel der Dimensionen der Empathie und allgemeinen Werte sowie des freundschaftsbezogenen Sozialkapitals zum ersten und des peerbezogenen Sozialkapitals zum zweiten Messzeitpunkt dargestellt. Am Beispiel des freundschafts-/peerbezogenen Sozialkapitals zeigt sich die Abnahme beispielsweise wie folgt: Zum ersten Messzeitpunkt im Alter von 14 Jahren verfĂŒgen drei Viertel der Jugendlichen ĂŒber ein hohes bis sehr hohes Sozialkapital in diesem Bereich. Zum zweiten Messzeitpunkt im Alter von 21 Jahren berichtet hingegen nur noch ein Viertel der jungen Erwachsenen ĂŒber peerbezogenes Sozialkapital. DarĂŒber hinaus lassen sich zu beiden Messzeitpunkten ânur wenige Effekte der Sozialstrukturkategorien auf die Klassenzugehörigkeitswahrscheinlichkeitâ nachweisen (177). So zeigen sich zum zweiten Messzeitpunkt keine Effekte der Kategorien Behinderung und Migration. Die Kategorien haben keinen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, einer bestimmten Klasse anzugehören. Anders verhĂ€lt sich dies bei der Kategorie Geschlecht. Junge Frauen haben âeine sehr viel grössere [sic] Wahrscheinlichkeit als junge MĂ€nner, einer der Klassen mit höheren Empathiewerten anzugehörenâ (177). In der Diskussion der Ergebnisse wird unter anderem der Aspekt der elterlichen Kontrolle in den Mittelpunkt gestellt. Hervorgehoben wird, dass ein groĂer Teil der Jugendlichen âĂŒber positive Formen von starken Bindungen verfĂŒgtâ (183). Die Autorin leitet dies aus den relativ niedrigen Werten fĂŒr strenge elterlichen Kontrolle und den hohen Werten fĂŒr emotionale NĂ€he zu den Eltern ab. Auch die Effekte der beiden zentralen Kategorien des Migrationshintergrundes und der Behinderung werden diskutiert, wobei auffĂ€llt, âdass die Kategorie Behinderung, sowohl allein wie auch mit den anderen Kategorien, keine Effekte zeigteâ (188) und keinen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit der Klassenzugehörigkeit hat.
Die Ergebnisdiskussion enthĂ€lt im zweiten Teil einen Ausblick mit weiterfĂŒhrenden Fragen, die sich insbesondere auf den ausbleibenden Effekt der Kategorie âBehinderungâ beziehen. Ob dieser einer vertieften Untersuchung standhalten kann, wĂ€re weiter zu klĂ€ren. Inhaltliche Fragen werfen hingegen einige AusfĂŒhrungen im Ausblick auf, die sich auf die Option der âEinbettung der Untersuchung vor dem Hintergrund kultureller Aspekteâ beziehen (193). Hier stellt die Autorin fest, dass es offensichtlich sei, dass âsich Geschlechterrollen je nach ethnischer Herkunft unterscheidenâ (194). Gleiches gelte fĂŒr âdie kulturell bedingte Wahrnehmung von Behinderungâ; sie sei âje nach Herkunft starkâ unterschiedlich (194). Problematisch an diesen AusfĂŒhrungen ist nicht nur, dass sie als kulturalisierende Zuschreibungen gelesen werden können. Sie legen auch den Eindruck nahe, dass â zumindest an dieser Stelle â eine stĂ€rkere RĂŒckbindung an den Forschungsstand sinnvoll wĂ€re.
Bereits vorliegende Arbeiten zeichnen ein differenzierteres Bild und untermauern die Problematik kulturalisierender Argumentationen an der Schnittstelle von Migration und Behinderung [1].
Die Publikation bietet spannende Einblicke in die Möglichkeiten, einen intersektionalen Ansatz in Verbindung mit dem Konzept des Sozialkapitals fĂŒr empirisch-quantitative Analysen zugĂ€nglich zu machen. Chantal Hinni wĂ€hlt einen anderen Zugang als die bisher vorliegenden, primĂ€r qualitativ-empirischen Arbeiten. Dass der im Titel prominent gesetzte Fokus auf die âSchnittstelle Behinderung und Migrationâ in der Arbeit selbst durch BezĂŒge auf die Kategorien Geschlecht und sozioökonomischer Status ergĂ€nzt wird, erscheint vor dem Hintergrund intersektionaler Perspektiven mehr als naheliegend und anschlussfĂ€hig an den Stand der Diskussion. Wie bereits angemerkt, wĂ€re jedoch in der Diskussion der Ergebnisse eine stĂ€rkere AnknĂŒpfung an den Forschungsstand zur Schnittstelle von Migration und Behinderung angebracht, auch um kulturalisierenden Interpretationen vorzubeugen. Die Veröffentlichung ist insbesondere fĂŒr Forschende mit einem Interesse an quantitativen ForschungsansĂ€tzen und entsprechenden methodischen Vorerfahrungen lesenswert. FĂŒr sie bieten die konzeptionelle Anlage und die Dokumentation der Umsetzung der Studie AnknĂŒpfungspunkte fĂŒr eigene Verbindungen quantitativ-empirischer AnsĂ€tze mit intersektionalen Theorieperspektiven.
[1] Amirpur, D. (2016). Migrationsbedingt behindert? Familien im Hilfesystem. Eine intersektionale Perspektive. transcript.