Der von Martin Karcher und Severin Sales Rödel herausgegebene Band beschäftigt sich mit dem Themenkomplex einer lebendigen Theorie, d.h. den „verwobenen, changierenden Verhältnissen von Lebenspraxis und Wissenschaft bzw. Theorie (...): Was macht die Theoretisierung eines lebensweltlichen Gegenstandes, einer Sache durch uns selbst oder andere, mit der Sache für uns? Welche (Aus-)Wirkungen hat es auf uns, unseren Umgang mit den Dingen und den Anderen? Wie erlebe und denke ich z.B. Scheitern, Verantwortung, Scham, Verletzbarkeit oder Technologisierung, nachdem ich mich mehrere Jahre im Rahmen einer Dissertation mit diesen Phänomenen intensiv und (beinahe) täglich auseinandergesetzt habe?“ (11-12). Ausgehend von einem „profanen“, sehr weit gehaltenen Arbeitsbegriff von Theorie als „Wahrnehmen“, „Sehen“ und “Anschauen“ (12, Anm. 3), diskutieren die beiden Herausgeber in ihrer instruktiven und klugen Einleitung zunächst unterschiedliche Leitfragen und systematische Problemvorgaben einer Rekonstruktion des Verhältnisses von Theorie und Leben (etwa: Theorie/Praxisverhältnisse; epistemologische Fragen der Situiertheit und sozialen Präformierung theoretischer Erkenntnis und Formen der Subjektivierung durch den Umgang mit Theorie; die Funktionen und Effekte von Theorie und theoretischer Einstellung in und für die eigene Lebensführung, ihre Reflexion und Veränderung; die Rolle von Affekten und Erfahrungen für die Theoriearbeit). Das damit umschriebene (Forschungs-)Programm einer lebendigen Theorie wird von den in dem Band präsenten Autor_innen aus Erziehungswissenschaft und Soziologie in fünf Kapiteln entlang der Topoi Aushandlungen, Orte, Materialitäten, Zeiten, Leben schreiben/Schreiben leben, Empirie, Arbeit am Konzept und Transformationen mit Rekurs auf individuelle Erfahrungs- und Bildungsgeschichten auf sehr unterschiedliche Art und Weise umgesetzt. Dabei werden in den meisten Beiträgen neben der Reflexion der eigenen Auseinandersetzung mit (wissenschaftlichen) Theorien [1] in der individuellen Biographie oder allgemeiner justierten theoretischen Überlegungen zum Verhältnis Theorie und Lebenspraxis auch weitergehende methodische, methodologische und wissenschaftstheoretische Fragen erörtert. Theoretisch bearbeitet und reflektiert werden dann eine Reihe von Themen und Erfahrungen, wie etwa z.B. die lesenswerten Beiträge zur häuslichen Pflege der demenzkranken Großmutter von Lotta Mayer, über die Rolle von Emotionen im Forschungsprozess von Lars Wicke, zum Thema Verantwortung u.a. gegenüber Tieren von Nele Kuhlmann, über die eigene akademische Sozialisation von Lukas Otterspeer oder den reflexiven Umgang mit der Internalisierung eines kritischen akademischen Habitus von Kai Wortmann. Die Reflexion über die Rolle von Theorie im Leben und des Lebens für die Theorie erlaubt eine Pluralität von Zugriffen, die sich auch in den genutzten Textgattungen zeigt (z.B. Essay, Autosoziobiographie, Glossar). Die Leser_innen können so viel erfahren über die – in vielen Fällen sehr verständlichen – Nöte und Frustrationserfahrungen, über die negativen wie positiven Bildungserfahrungen junger Wissenschaftler_innen, die ihre akademischen Bildungsprozesse mal eher als Prozess der Bereicherung und Emanzipation, mal eher als Unterwerfungs- und Disziplinierungsprozess unter die Regeln und Vorgaben wissenschaftlichen Arbeitens verstehen (welche man aber gleichwohl dann doch recht souverän biographisch zu reflektieren vermag, was man – trotz aller Kritiken eines souveränen und autonomen Wissenschaftler_innensubjekts – als Indikator für Autonomie werten kann) [2].
Es breitet sich also vor den Leser_innen die Fülle des Lebens in der Theorie und der Theorien im Leben aus und man wird nicht umhinkommen, das Projekt einer lebendigen Theorie nicht nur bildungstheoretisch interessant, sondern im Durchgang und Nachvollzug der individuellen Reflexionen auch aus einer pädagogischen Perspektive sympathisch zu finden.
Das bunte Panorama von – in Anlehnung an John Stuart Mill gesprochen – experiments in living theories, welches der Band bietet, hat jedoch auch seine blinden Flecken, die nicht nur den recht westlichen Zuschnitt der Theoriereferenzen betreffen (man vermisst z.B. indische und anderen Philosophien und ihre lebendigen Theorien [3]), sondern auch einen gewissen Überschuss an – den dann doch immer gleichen – Theorien poststrukturalistischen Zuschnitts. So wird dann zwar geradezu leitmotivisch immer wieder auf die Situiertheit, Positioniertheit und Standortgebundenheit des eigenen – nicht frei von Machtverhältnissen zu denkenden und als nicht souverän bestimmten – theoretischen Zugangs zur Welt verwiesen (ohne in der Regel zu explizieren, was ggf. daraus genau folgt oder kritisch zu diskutieren, ob eine solche Sichtweise nicht auch problematische Implikationen haben könnte für Theoriearbeit und wissenschaftliche Diskussionen). Ironischerweise wird dabei aber nicht berücksichtigt, dass eine solche epistemologische und (meta-)theoretische Selbstfestlegung nahelegen könnte, dass poststrukturalistische Vorgaben und ihre Rezeption (die man nur allzu bereitwillig übernimmt, nur selten wie etwa Wicke, Kuhlmann und Wortmann kritisch-distanziert analysiert), selbst ein dominanter Subjektivierungsmodus (Allgemeiner) Erziehungswissenschaftler_innen (bzw. Sozial- und Kulturwissenschaftler_innen) geworden zu scheinen, der ihre theoretisch vermittelte Selbstdeutung und Forschungspraxis bestimmt. Lebendige Theorie, so scheint es, kann man dann nur noch als (postulierte) Auseinandersetzung mit der eigenen Verwobenheit in Machtformationen denken, ohne theoretische Alternativen – auch der Selbstdeutung und -konstruktion – zu berücksichtigen oder sich auf eine Kontroverse über die so theorie- und identitätspolitisch, letztlich dann eben nur gesetzte, aber kaum hinreichend kritisch reflektierten und begründeten, Theorieschablonen einlassen zu müssen. Bei aller vermeintlichen Reflexivität in puncto Standortgebundenheit und der Gewalt (ohnehin ein wenig sinnvoller Begriff in diesem Kontext), die mit der Auseinandersetzung mit Theorien vermeintlich einhergeht, gerät so nicht in den Blick, dass diese mantrahaft wiederholte Thematisierungsform einer lebendigen Theorie in manchen Fällen nicht nur wenig lebendig erscheint, sondern Sensibilitäten und Selbstdeutungsmustern entgegenkommt, die vielleicht nicht in allen Milieus in gleicher Weise verankert sein dürften. Auch mit Bezug auf die vertretenen disziplinären und methodologischen Hintergründe wäre es zudem interessant gewesen, auch andere Perspektiven auf den Topos einer lebendigen Theorie kennenzulernen. Wie ist es z.B. mit Vertreter_innen der sog. empirischen bzw. Empirischen Bildungsforschung? Was für ein Mensch wird man, wenn man Forschung auf diese Art begreift und organisiert, wie ändert sich der theoretisch vermittelte Blick auf die eigene Lebensführung und Bildungspraxis (vorausgesetzt, dass es hier überhaupt einen theoretischen bzw. empirischen Zusammenhang gibt)? Ließe sich hier überhaupt von lebendiger Theorie sprechen? In diesem Zusammenhang wäre es auch interessant zu fragen, ob und inwiefern die „Regeln wissenschaftlichen Schreibens“ auch in solchen Wissenschaftsbereichen „Klassenunterschiede […] reproduzieren“ und als „Form symbolischer Gewalt“ (94) benannt werden müssen, in denen man deutlich weniger Gefahr läuft, mit distinguierter Theorie in Berührung zu kommen.
Diese kritischen Anmerkungen sollen in keiner Weise die Leistungen und Vorzüge des auch in ästhetischer Hinsicht gelungenen (Ein-)Bandes aus dem Blick geraten lassen; vielmehr unterstreichen sie, wie wichtig und komplex die in und durch den Band angestoßenen Fragen zum Verhältnis von Theorie und Leben bzw. Wissenschaft und Wissenschaftler_innen sind. Karcher und Rödel haben ein interessantes Buch zusammengestellt, das allen lebendigen Theoretiker_innen da draußen empfohlen werden kann.
[1] zum Topos `Bildung durch Wissenschaft´ im Kontext von Universität: Schlaeger, J. & Tenorth, H.-E. (2020). Bildung durch Wissenschaft. Vom Nutzen forschenden Lernens. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag.
[2] Christman, J. (2009). The Politics of Persons. Cambridge: Cambridge University Press. Anzumerken ist außerdem, dass einige der Selbstreflexionen – entgegen der Leitvorgabe der Herausgeber – dann doch als latent narzistische und pathetische Selbststilisierungen gelesen werden können.
[3] hierzu: Gosepath, St. (2020). Die Notwendigkeit globaler Philosophie. In Deutsche Zeitschrift fĂĽr Philosophie, 68 (6), 943-956.
EWR 21 (2022), Nr. 1 (Januar)
Lebendige Theorie
Hamburg: Textem Verlag 2021
(346 S.; ISBN 978-3-86485-256-5; 20,00 EUR)
Johannes Drerup & Phillip Knobloch (Amsterdam/Dortmund, Eichstätt/Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johannes Drerup & Phillip Knobloch: Rezension von: Karcher, Martin / Rödel, Severin Sales: Lebendige Theorie. Hamburg: Textem Verlag 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386485256.html
Johannes Drerup & Phillip Knobloch: Rezension von: Karcher, Martin / Rödel, Severin Sales: Lebendige Theorie. Hamburg: Textem Verlag 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386485256.html